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Missachtung der Koalitionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen
Der Länderbericht Umsetzungshilfe Risikoanalyse Tunesien unterstützt bei der Ermittlung und Vermeidung menschenrechtlicher Risiken gemäß dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
27.11.2024
(Vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 6 LkSG)
Kurzbeschreibung: Koalitionsfreiheit umfasst das Recht von Arbeitnehmenden, sich frei zu Gewerkschaften zusammenschließen zu dürfen. Koalitionsfreiheit umfasst zudem in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht des Beschäftigtenortes das Recht von Gewerkschaften sich zu betätigen, was ein Streikrecht und ein Recht auf Kollektivverhandlungen beinhaltet.
Gesetzliche Grundlagen
Tunesien ist Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization; ILO) und hat neun von zehn Kernübereinkommen ratifiziert (Stand: September 2024). Dazu gehören die hier relevanten Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes (ILO-Übereinkommen Nr. 87) sowie über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen (ILO-Übereinkommen Nr. 98). Informationen zu Mitgliedschaften in internationalen Abkommen sind in der Datenbank NORMLEX (Information System on International Labour Standards) der ILO verfügbar: Ratifications by country.
Fragen der Kollektivverhandlungen und Tarifverträge sind in Art. 31 ff des code du travail geregelt. Es gibt Ankündigungsfristen für Arbeitsniederlegungen. Gründung und Beitritt zu Gewerkschaften sind möglich. Informationen zu einschlägigen nationalen Policies und zum anwendbaren nationalen Recht sind in der Datenbank NATLEX (Database on national labour, social security and related human rights legislation) der ILO verfügbar: Browse by country.
Weiterführende Informationen zur Definition und rechtlichen Instrumenten bezüglich Vereinigungsfreiheit bietet der Praxislotse Wirtschaft & Menschenrechte.
Risiken
Tunesien belegt im Global Rights Index 2024 des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), der jährlich die relevanten Rahmenbedingungen zur Respektierung kollektiver Arbeitnehmerrechte durch das jeweilige Land bewertet, auf der Skala von 1 bis 5 das Rating 5. Dies bedeutet, dass Rechte nicht garantiert sind.
In den exportorientierten Bereichen besteht unmittelbar noch eine funktionierende Sozialpartnerschaft. Dazu mag beitragen, dass überdurchschnittliche Gehälter gezahlt werden und dass zum Beispiel in der Automobilzulieferindustrie „just in time“ Lieferketten bestehen, die nicht durch Arbeitskonflikte gefährdet werden sollen.
Laut einem Bericht der Fair Wear Foundation aus dem Jahr 2021 gibt es in den Fabriken der Bekleidungsindustrie nur ein geringes gewerkschaftliches Engagement. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt nur bei etwa 15 bis 20 Prozent. Selbst wenn es Gewerkschaften gibt, sind sie nicht immer in der Lage, den sozialen Dialog anzuregen oder das Bewusstsein für die lokalen Gesetze zu sensibilisieren. Es gibt einige Ausnahmefälle, meist in Fabriken in gut entwickelten Regionen, in denen der Kenntnisstand der Arbeitnehmenden wesentlich höher ist. Historisch spielt die Union Générale Tunisienne du Travail eine zentrale Rolle, die jedoch vorwiegend im öffentlichen Dienst vertreten ist.
Eine gewisse Risikolage ist hinsichtlich mittelbarer Zulieferer festzustellen. Denkbar wären beispielsweise staatliche Eingriffe in Tarifverhandlungen bei Hafenbetrieben, Strom- und Wasserversorgern etc.
Die 112. Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation hat wegen der Verletzung des ILO-Übereinkommens Nr. 87 (Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes) im Zusammenhang mit der Verhaftung des Gewerkschafters der Basisgewerkschaft der Autobahnbetreibergesellschaft Anis Kaibi im Februar 2023, der Ausweisung der Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und weiterer Maßnahmen gegen Gewerkschafter sowie Klagen zur Rückerstattung von Gehältern während Freistellungen und Disziplinarmaßnahmen eine Reihe von Empfehlungen an die Regierung gerichtet.
Ein weiterer zentraler Punkt ist, dass Tarifvereinbarungen im öffentlichen Dienst zur Rechtswirksamkeit der Veröffentlichung im Amtsblatt bedürfen. Diese ist für die letzte Tarifvereinbarung im öffentlichen Dienst vom September 2022 noch nicht erfolgt. Damit wird die normative Wirkung von Tarifverträgen unterlaufen.
Das Verbot der Missachtung der Koalitionsfreiheit ist in vielen Wirtschaftsbereichen zu finden. Unternehmen können auf den CSR Risiko-Check zurückgreifen.
Präventions- und Abhilfemaßnahmen
Die AHK Tunesien ist Teil des weltweiten Netzwerkes der deutschen Auslandshandelskammern (AHK) zur Förderung der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen. Sie bietet praxisbezogene Marktinformationen, konkrete Geschäftspartnervermittlungen, umfassende Investitionsberatung sowie Fachveranstaltungen.
Am 23. April 2024 wurde der Responsible Business Helpdesk (RBH) in Tunesien offiziell eingerichtet. Der Helpdesk wird vom tunesischen Arbeitgeberverband Union Tunisienne de l'Industrie, du Commerce et de l'Artisanat (UTICA) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) betrieben.
Das Netzwerk wird von der Initiative für globale Solidarität (IGS) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt. Für Beratungen kann die Koordinatorin des Zentralbüros des RBH und Verantwortliche in der Zentraldirektion für soziale Angelegenheiten bei der UTICA, Manel Zawali, kontaktiert werden: +216 98 692 604 beziehungsweise zawalimanel@yahoo.fr.
Das Freedom of Association Committee (Ausschuss für Vereinigungsfreiheit) überprüft gesondert Verstöße gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen. Informationen über ILO-Verfahren der Normenkontrolle sind frei verfügbar. Weiterführende Informationen zu Präventions- und Abhilfemaßnahmen hinsichtlich des Verbots der Missachtung der Koalitionsfreiheit können über den Praxislotsen Wirtschaft & Menschenrechte unter Vereinigungsfreiheit im Sorgfaltsprozess adressieren eingesehen werden.