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Missachtung von Arbeitsschutz und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren
Der Länderbericht Umsetzungshilfe Risikoanalyse Tunesien unterstützt bei der Ermittlung und Vermeidung menschenrechtlicher Risiken gemäß dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
27.11.2024
(Vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 5 LkSG)
Kurzbeschreibung: Maßgeblich ist das Recht des Beschäftigtenortes. Verstöße gegen das national anwendbare Arbeitsschutzrecht sind verboten, wenn dadurch die Gefahr von Unfällen bei der Arbeit oder arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren entstehen. Dies kann durch ungenügende Sicherheitsstandards, Fehlen geeigneter Schutzmaßnahmen und ungenügende Ausbildung und Unterweisung verursacht werden.
Gesetzliche Grundlagen
Tunesien ist Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization; ILO) und hat neun von zehn Kernübereinkommen ratifiziert (Stand: September 2024). Darunter das Kernübereinkommen über den Förderungsrahmen für den Arbeitsschutz (ILO-Übereinkommen Nr. 187). Das hier ebenfalls relevante Übereinkommen über Arbeitsschutz und Arbeitsumwelt (ILO-Übereinkommen Nr. 155) hat Tunesien nicht ratifiziert. Informationen zu Mitgliedschaften in internationalen Abkommen sind in der Datenbank NORMLEX (Information System on International Labour Standards) der ILO verfügbar: Ratifications by country
Das tunesische Arbeitsgesetz (tArbG) enthält die wesentlichen Regelungen für den betrieblichen Arbeitsschutz. Seine Geltung erstreckt sich auf private und öffentliche Betriebe sowie auf sämtliche Wirtschaftssektoren, darunter Landwirtschaft und Bergbau (Artikel 1 tArbG in Verbindung mit Artikel 2 t ArbG). Das Gesetz verbietet in Art. 77 tArbG minderjährigen und erwachsenen Frauen die Arbeit unter Tage; Art. 66 tArbG verlangt, dass Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren sowie erwachsene Frauen nachts grundsätzlich keine zwölf Stunden am Stück arbeiten dürfen. Schließlich verpflichtet Art. 75 tArbG Arbeitgebende, Verkaufsräume mit einer Anzahl von Sitzplätzen auszustatten, die der Anzahl weiblicher Beschäftigter entspricht.
Das tArbG verpflichtet zunächst den Arbeitgebenden im Hinblick auf seine unmittelbaren Angestellten zur Einhaltung des Arbeitsschutzes. Unter Umständen ist der Arbeitgebende auch Dritten gegenüber verpflichtet, beispielsweise Zulieferer oder Subunternehmer. Gemäß Artikel 29 tArbG ist ein Auftraggeber auch zugunsten der Angestellten eines Auftragnehmers mitverantwortlich für die Einhaltung der Vorschriften über Arbeitsbedingungen, Sicherheit, Hygiene, Arbeitszeiten, Nachtarbeit, Arbeit von Frauen und Kindern, wöchentliche Ruhezeiten und Feiertage, sobald der Angestellte des Auftragnehmers in den Räumlichkeiten, auf dem Gelände oder der Baustelle des Auftraggebers tätig ist.
Zentrale Vorschriften über den Arbeitsschutz enthalten die Art. 152 ff. tArbG. Danach müssen Arbeitgebende die notwendigen und zumutbaren Maßnahmen zum Schutze der Arbeitnehmenden und zur Verminderung von Berufsrisiken ergreifen. Insbesondere sind Arbeitgebende verpflichtet:
- über den Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz zu wachen
- angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten
- Arbeitnehmer vor spezifischen Risiken zu schützen, die von Maschinen und anderen Arbeitsmitteln ausgehen
- Mittel zur Schadenprävention bereitzustellen
- Arbeitnehmer über Berufsrisiken aufzuklären.
Um diese Pflichten des Arbeitgebenden zu erfüllen, muss die Betriebsleiterin einen Beauftragten für Arbeitssicherheit bestellen, der seine Aufgaben in Vollzeit wahrnimmt (Art. 155 tArbG). Betriebe über 500 Mitarbeiter müssen darüber hinaus einen unabhängigen arbeitsmedizinischen Dienst einrichten, der sich mit der gesundheitlichen Prävention der Beschäftigten befasst. Ein Betrieb mit weniger als 500 Mitarbeitern kann sich auch einer existierenden arbeitsmedizinischen Gruppierung anschließen (Art 153 und 153-2 tArbG). Bei diesen arbeitsmedizinischen Gruppierungen handelt es sich um gemeinnützige Körperschaften des Privatrechts (Art. 154 tArbG).
Zum Arbeitsschutz im weiten Sinne zählen auch die Regelungen über die Arbeitszeit. Das tunesische Recht regelt dies in den Art. 79 ff. tArbG. Danach beträgt die wöchentliche Regelarbeitszeit außerhalb der Landwirtschaft durchschnittlich 48 Stunden (Art. 79 tArbG). Was die Überschreitung dieser Regelarbeitszeit betrifft, unterscheidet das tArbG zwei Arten:
Zunächst kann gemäß Art. 83 tArbG die örtlich zuständige Arbeitsinspektion eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit genehmigen: entweder für Reparatur- und Wiederherstellungsarbeiten nach einem Unfall oder bei einem außergewöhnlichem Arbeitsanfall. Im letzteren Fall darf die tägliche Arbeitszeit zehn Stunden nicht überschreiten. Die Kompensation erfolgt in beiden Fällen im Wege des Freizeitausgleichs.
Schließlich gibt es noch Überstunden im Sinne des Art. 90 tArbG. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Überstunden werden diese mit Geld vergütet. Bei einer Vollzeitstelle beläuft sich der Betrag auf 75 Prozent des Grundgehaltes, bei einer Teilzeitstelle sind es 25 Prozent bis 48 Wochenstunden und 50 Prozent bei mehr als 48 Stunden. Überstunden im Sinne des Art. 90 tArbG können zusätzlich zu denen nach Art. 83 tArbG durch die Arbeitsinspektion gewährt werden, wenn der Arbeitgebende dadurch einen Anstieg der Produktion verfolgt (Art. 91 tArbG).
Gemäß Art. 95 tArbG hat die Arbeitswoche grundsätzlich sechs Tage. Es gibt einen Ruhetag, der an einem Stück zu nehmen ist. Die Ruhezeiten zwischen den einzelnen Arbeitstagen betragen mindestens zehn Stunden. Der wöchentliche Ruhetag kann in dringenden Fällen aufgeschoben werden.
Über die Einhaltung des Arbeitsschutzes wacht die Arbeitsinspektion im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Soziales, Art. 170 ff. tArbG. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben gibt das Gesetz der Arbeitsinspektion Eingriffsbefugnisse an die Hand, die jenen einer Polizeibehörde ähneln. Insbesondere sind die Vertreter der Arbeitsinspektion befugt, sich ohne Vorankündigung und zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu Betrieben zu verschaffen, die der Kontrolle der Arbeitsinspektion unterliegen. Dabei dürfen die Vertreter der Arbeitsinspektion Beschäftigte befragen sowie Geschäftsbücher, -Unterlagen und -Register einsehen (Art. 174 tArbG). Falls unmittelbarer Zwang erforderlich ist, darf die Arbeitsinspektion die Polizei um Amtshilfe ersuchen.
Ähnlich der Arbeitsinspektion überwacht die arbeitsmedizinische Aufsicht (Art. 291 ff. tArbG) Angelegenheiten, die im Zusammenhang mit beruflichen Gesundheitsrisiken stehen. Der arbeitsmedizinischen Aufsicht hat über die Verweisungsnorm des Art. 292 tArbG die Befugnisse der Arbeitsinspektion.
Verstöße gegen die Vorschriften über die Arbeitssicherheit oder die Arbeits- und Ruhezeiten werden gemäß den Artt. 233 ff tArbG mit einem Bußgeld sanktioniert. Adressaten dieser Sanktionen ist das Leitungspersonal. Bei Verstößen gegen Hygienevorschriften und Vorschriften betreffend die Arbeitssicherheit kann das Gericht Maßnahmen zur Wiederherstellung eines rechtmäßigen Zustandes anordnen. Nach fruchtlosem Ablauf der Umsetzungsfrist kann das mit der Sache befasste Gericht anordnen, dass der betroffene Betrieb geschlossen werden muss.
Informationen zu einschlägigen nationalen Policies und zum anwendbaren nationalen Recht sind in der Datenbank NATLEX (Database on national labour, social security and related human rights legislation) der ILO verfügbar: Browse by country.
Weiterführende Informationen zu Definition und rechtlichen Instrumenten bezüglich Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz bietet der Praxislotse Wirtschaft & Menschenrechte.
Risiken
Die Behörde für Arbeitsinspektion (inspection du travail) ist mit 350 Inspektoren für die landesweite Umsetzung der Arbeitsschutzvorschriften zuständig. Für 2021 wird die Zahl der Arbeitsunfälle pro 1.000 Arbeitnehmenden mit 11,7 angegeben. Dass diese Zahl etwa halb so hoch ist wie in Deutschland (19,78) erklärt sich daraus, dass als Unfall erst ein Geschehnis eingestuft wird, das bis zu drei Tagen Arbeitsunfähigkeit führt (erst ab dann können Lohnersatzleistungen bezogen werden).
Nach Angaben der öffentlichen Krankenkasse Caisse nationale d'assurance-maladie (CNAM) kam es im Jahr 2021 in Tunesien zu 100 tödlichen Arbeitsunfällen, einschließlich Wegeunfällen. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße entspricht dies etwa den deutschen Zahlen. Allerdings ergibt sich aus Zahlen des Verkehrsministeriums, dass die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle pro 100.000 Einwohner drei Mal höher ist als in Deutschland. Die Mehrzahl der Verrentungen erfolgt wegen Erkrankungen des Skeletts/Bewegungsapparates, 80 Prozent der Rentenanträge werden bewilligt. Die CNAM betont, dass dieses aus sozialpolitischen Gründen erfolge und Verrentung vor Rehabilitation ginge.
In der Landwirtschaft ist der Arbeitsschutz wenig ausgeprägt. Es gibt immer wieder Meldungen von Unfällen - teilweise mit tödlichem Ausgang - beim Transport von weiblichen Erntehelferinnen und ihren Kindern.
Um mögliche Risiken bei der Missachtung von Arbeitsschutz und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in Tunesien zu ermitteln, können Unternehmen auf den CSR Risiko-Check zurückgreifen.
Präventions- und Abhilfemaßnahmen
Die AHK Tunesien ist Teil des weltweiten Netzwerkes der deutschen Auslandshandelskammern (AHK) zur Förderung der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen. Sie bietet praxisbezogene Marktinformationen, konkrete Geschäftspartnervermittlungen, umfassende Investitionsberatung sowie Fachveranstaltungen.
Am 23. April 2024 wurde der Responsible Business Helpdesk (RBH) in Tunesien offiziell eingerichtet. Der Helpdesk wird vom tunesischen Arbeitgeberverband Union Tunisienne de l'Industrie, du Commerce et de l'Artisanat (UTICA) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) betrieben.
Das Netzwerk wird von der Initiative für globale Solidarität (IGS) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt. Für Beratungen kann die Koordinatorin des Zentralbüros des RBH und Verantwortliche in der Zentraldirektion für soziale Angelegenheiten bei der UTICA, Manel Zawali, kontaktiert werden: +216 98 692 604 beziehungsweise zawalimanel@yahoo.fr.
Der Vision Zero Fund ist eine Multi-Stakeholder-Plattform, die gemeinsam mit Experten Trainings für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit in verschiedenen Lieferketten anbietet. Weiterführende Informationen zu Präventions- und Abhilfemaßnahmen hinsichtlich des Verbots der Missachtung des Arbeitsschutzes können über den Praxislotsen Wirtschaft & Menschenrechte unter Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz eingesehen werden.