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Wirtschaftsumfeld | Ukraine | Mobilisierung

Deutsche Firmen zeigen Verständnis für neues Mobilisierungsgesetz

Die Ukraine weitet die Mobilisierung von Rekruten aus. Die neue Einberufungswelle verschärft den Arbeitskräftemangel. Um Spezialisten zu halten, werden Firmen kreativ.

Von Hans-Jürgen Wittmann | Berlin

Um die Truppenstärke in den Streitkräften zu erhöhen, weitet die Ukraine die Wehrpflicht aus. Die dafür notwendige Novelle des Mobilisierungsgesetzes ist am 18. Mai 2024 in Kraft getreten. Nach mehr als zwei Jahren Krieg hat die ukrainische Armee Schwierigkeiten, neue Soldaten zu gewinnen. Zudem bindet die aktuelle russische Angriffswelle auf das Gebiet Charkiw zusätzliche Kapazitäten.

Das Einberufungsnetz wird engmaschiger

Das neue Mobilisierungsgesetz senkt das Alter für Kampfeinsätze von 27 auf 25 Jahre ab. Zudem müssen sich Wehrpflichtige innerhalb von 60 Tagen bei den Kreiswehrersatzämtern melden, was ihre Erfassung vereinfachen soll. Um das Einberufungsprozedere zu beschleunigen und auch Wehrpflichtige im Ausland zu erreichen, wird der Einberufungsbescheid statt per Post künftig per E-Mail oder per App zugestellt. Freiwillige erhalten einen höheren Sold.

Weiterhin sieht das Mobilisierungsgesetz härtere Strafen für Kriegsdienstverweigerer vor: Die Werchowna Rada stimmte Anfang Mai 2024 einem entsprechenden Gesetzesentwurf zur Erhöhung der Geldstrafen zu. Das Bußgeld für die Nichtregistrierung oder die Nichtaktualisierung von Daten beim Kreiswehrersatzamt wird von umgerechnet 80 Euro auf 120 Euro angehoben. Für wiederholte Verstöße sowie die Verweigerung der Einberufung werden statt bisher knapp 400 Euro künftig rund 600 Euro fällig - mehr als das durchschnittliche Monatsgehalt in der Ukraine von aktuell rund 460 Euro.

Außerdem sieht das neue Mobilisierungsgesetz vor, dass Soldaten, die mehr als 36 Monate gedient haben, trotz anderslautender Ankündigung vorerst doch nicht aus dem Dienst an der Waffe entlassen werden.

Weiterhin können männliche Geflüchtete im wehrfähigen Alter, die zwischen 18 und 60 Jahre alt sind, an Botschaften und Konsulaten der Ukraine im Ausland nur noch dann konsularische Dienste in Anspruch nehmen, wenn sie ihre Registrierung bei den Wehrbehörden auf Papier oder elektronisch nachweisen. Das betrifft auch rund 256.000 in Deutschland lebende Wehrpflichtige.

Neue Mobilisierungswelle verschärft Fachkräftemangel

Die geplanten Rekrutierungsmaßnahmen erschweren die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften in dem osteuropäischen Land. Aufgrund von Flucht vor Krieg, Vertreibung und Besatzung fehlten gut ausgebildete Spezialisten schon heute sehr. Ende Februar 2024 zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk rund 3,7 Millionen Binnenmigranten sowie weitere 6,5 Millionen Geflüchtete ins Ausland. Zudem plant jeder vierte ukrainische Schüler nach seinem Schulabschluss eine Karriere in anderen Ländern, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Vox Populi.

"Der Mangel an Arbeitskräften ist die zweitgrößte Herausforderung für die ukrainische Wirtschaft, gleich nach den Kriegshandlungen,"

beschreibt Anna Derevyanko, Executive Director der European Business Association (EBA) das aktuell schwierige Geschäftsumfeld für Firmen in ihrem Land. Die bevorstehende Einberufungswelle mache eine längerfristige Planung bei Unternehmen noch herausfordernder.

Deutsche Wirtschaft hat Verständnis für neue Mobilisierung

Das Mobilisierungsgesetz hat nicht nur Folgen für ukrainische Bürger im wehrfähigen Alter, sondern auch für lokale Unternehmen und Tochtergesellschaften ausländischer Firmen und deren Mitarbeitende. Die Firmen müssen den Spagat schaffen, einerseits ihren Beitrag zur Verteidigung des Landes und damit ihres Absatzmarktes zu leisten. Andererseits gilt es, die Funktionsfähigkeit der Unternehmen unter Kriegsbedingungen zu gewährleisten sowie Spezialisten und Fachkräfte an Bord zu halten. Deren Wohlergehen spiegelt sich in Einnahmen für den ukrainischen Staatshaushalt durch Ausfuhrzölle, Steuern und Abgaben wider.

"Die zentrale Herausforderung ist eine ausgewogene Mobilisierung, die den militärischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen des Landes gerecht wird,"

resümiert Reiner Perau, Geschäftsführer der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK Ukraine) in Kyjiw (vormals Kiew). Insgesamt reagieren Vertreter deutscher Unternehmen vor Ort mehrheitlich mit Verständnis auf die neuen Regeln. Sie unterstreichen aber, dass die Balance gehalten werden muss, um den Fachkräftemangel nicht noch weiter zu verschärfen.

Firmen halten Fachkräfte mit Ausnahmeregelungen und Kreativität

Zudem gibt es für lokale Unternehmen Möglichkeiten, auf die Einberufungsbescheide von Mitarbeitern einzuwirken. Am wenigsten Sorgen machen müssen sich Betriebe, die eine strategische Bedeutung für die ukrainische Wirtschaft haben: "Es besteht die Möglichkeit, sich als kritisches Unternehmen einstufen zu lassen", zeigt Kammerchef Perau einen Ausweg auf. Hierzu müssen Firmen bestimmte Kriterien erfüllen. Ausschlaggebend sei die Bedeutung des Unternehmens für die ukrainische Wirtschaft, einen bestimmten Sektor oder die Sicherheit des Landes: "Wird ein Unternehmen als kritisch eingestuft, kann es 50 Prozent seiner Belegschaft von der Mobilisierung befreien. Die Einstufung gilt für ein Jahr, die Befreiung der Mitarbeiter für 6 Monate".

Zum Einsatz kommen aber auch herkömmlichere Personalmanagement-Methoden, berichtet Perau. So setzen deutsche Firmen verstärkt auf Frauen, Pensionäre und Personen mit körperlichen Einschränkungen. Firmen, die im Westen des Landes angesiedelt sind, schauen sich in den frontnahen Gebieten nach Arbeitskräften um. Darüber hinaus werde hausintern kompensiert und qualifiziert, oder mit Rationalisierungs- und Effizienzsteigerungsmaßnahmen gegengesteuert.

Außerdem werden Unternehmen sehr kreativ, um ihre Fachkräfte vor einer Einberufung zu bewahren. Einige Firmen nutzen unter anderem die - vollkommen legale - Möglichkeit, ihre Mitarbeiter als Studierende an Universitäten zu immatrikulieren, wie aus deutschen Unternehmerkreisen zu hören ist. Denn wehrpflichtige Männer können sich neben familiären und gesundheitlichen Gründen auch zur Ausbildung von der Einberufung befreien lassen.

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