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Geberländer unterzeichnen Fahrplan für Wiederaufbau der Ukraine
Noch während des russischen Angriffskrieges nimmt der Wiederaufbau der Ukraine Konturen an. In Lugano haben rund 40 Staaten einer Roadmap zur künftigen Entwicklung zugestimmt.
06.07.2022
Von Gerit Schulze | Berlin
Mit erstaunlichem Optimismus blickt die Ukraine trotz anhaltender Kämpfe in die Zukunft. Im schweizerischen Lugano präsentierte das Land am 4. und 5. Juli 2022 seine ambitionierten Pläne bei einer Wiederaufbaukonferenz. Premierminister Denis Schmyhal sagte, die Roadmap für den Aufbau des Landes müsste noch vor dem Ende des Krieges fertig sein. "Wir wollen Investoren und anderen Regierungen zeigen, dass die Ukraine eine sehr klare Vorstellung davon hat, wie sie Mitglied der Europäischen Union werden und ein Wirtschaftswunder vollbringen will."
Enormes Ausmaß an Zerstörungen
Schmyhal verwies auf das enorme Ausmaß der Zerstörungen, die sich auf über 100 Milliarden Euro summierten. Über 40 Millionen Quadratmeter Wohnraum, 200 medizinische Einrichtungen, 300 Brücken, zwölf Flughäfen und 24.000 Kilometer Straßen seien bereits beschädigt.
Der Wiederaufbau wird nur mit internationaler Hilfe gelingen. Die Regierung in Kiew hat ein National Recovery Council (NRC) gegründet, das die Entwicklung nach dem Krieg planen und koordinieren soll. Verantwortliche Personen und Behörden bekommen klare Leistungsvorgaben (KPI), private Investoren sollen mit Stimuli und Absicherungen (War risk insurance) zu einem Engagement bewegt werden. Mit Hilfe digitaler Verwaltungsprozesse will die Regierung Korruption bei der Mittelverteilung verhindern. Im Index der Korruptionswahrnehmung von Transparency International lag die Ukraine 2021 noch weit hinten auf Platz 122 von 180 untersuchten Ländern (Russland: Platz 136).
Regierungschef Schmyhal versprach in Lugano "Transparenz, Offenheit und Verantwortlichkeit" beim Wiederaufbau. Die Hilfsmittel sollten effizient verwendet werden. Eine Beratergruppe aus europäischen Politikern und Ökonomen werde die Reformen überwachen.
"Wir tauschen nicht nur Glas und Beton aus, wir bauen ein ganz neues Land." – Premierminister Denis Schmyhal
Wiederaufbaukosten von 750 Milliarden US-Dollar
Für die anstehenden Investitionen hat die Ukraine bereits konkrete Vorstellungen. "Unser Ziel ist es nicht, einfach nur Glas und Beton auszutauschen, sondern ein ganz neues Land zu bauen," sagte Premierminister Schmyhal. Er schätzt die Kosten für die Erneuerung der Ukraine nach dem Ende des Krieges auf 750 Milliarden US-Dollar (US$). Als mögliche Finanzierungsquellen für den Wiederaufbauplan nannte Schmyhal in Lugano:
- Konfiszierte russische Vermögensgüter im Umfang von 300 Milliarden bis 500 Milliarden US$
- Beihilfen und zinsgünstige Kredite internationaler Finanzorganisationen
- Investitionen des Privatsektors in Form von Public-private-Partnerships
- Spenden von Privatpersonen und Unternehmen (unter anderem über die Crowdfunding-Plattform United24)
- Eigene Haushaltsmittel der Ukraine, öffentliche Anleihen
- Green Bonds für Projekte der Energieeffizienz und Nachhaltigkeit
Ziel der Ukraine ist es, bis 2032 ein jährliches Wirtschaftswachstum von mehr als 7 Prozent zu erreichen und in die Top 25 bei wichtigen Entwicklungskennziffern wie dem Economic Complexity Index (2020: Platz 42) und dem World Bank Human Capital Index (2020: Platz 53) zu kommen.
Aufbau der Infrastruktur im Fokus
Der Schwerpunkt der künftigen Investitionen liegt auf der Erneuerung der Infrastruktur. Laut Kyiv School of Economics hat Russlands Raketen- und Artilleriebeschuss bereits 24.000 Kilometer Straßen, 300 Brücken, elf Flughäfen und 6.300 Eisenbahnwaggons zerstört oder beschädigt.
Quelle: Ukraine Recovery Conference 2022; Verkehrsministerium der Ukraine |
Auch der Wohnungsbau spielt eine wichtige Rolle. Neben der Errichtung von Übergangsgebäuden für Geflüchtete plant Kiew ein umfassendes Programm zur energieeffizienten Wohnraumsanierung. Die Regierung will die Fernwärmeversorgung modernisieren, um den Gasverbrauch zu senken, und die Wasserwirtschaft sanieren.
Viele Projekte zu Umwelt- und Klimaschutz
Die ökologische Situation in der Ukraine war schon vor dem Krieg dramatisch. Das Land verzeichnet riesige Verluste durch ineffiziente Energieübertragungssysteme und veraltete Industrieanlagen. Von den jährlich anfallenden 500 Millionen Tonnen Abfall wird bislang nur ein Viertel wiederverwertet. Russlands Angriff hat die Situation verschärft: Öllager und Raffinerien wurden bombardiert und setzten große Mengen Schadstoffe frei. Kläranlagen sind zerstört, Ackerflächen mit Munition kontaminiert.
Neben der Infrastruktur gehören Investitionen in Umweltschutzprojekte daher zu den Schwerpunkten des Wiederaufbauprogramms. Im Ukraine Recovery Plan sind 76 Vorhaben mit einem Finanzbedarf von 25,5 Milliarden Euro erwähnt. Vorgesehen ist, die einheimische Industrie für 10 Milliarden Euro zu modernisieren und den Kohlendioxidausstoß zu senken. Die Abfallwirtschaft soll nach europäischen Standards umgebaut und der Recyclinganteil erhöht werden. Viel Potenzial gibt es außerdem bei der Wärmedämmung von Gebäuden.
Als Pilotmodell für nachhaltigen Städtebau will die ukrainische Regierung eine besonders stark vom Krieg zerstörte Stadt zur "Green City" machen. Die noch nicht ausgewählte Vorzeigestadt soll bis 2030 die Hälfte ihres Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen beziehen, über ein intelligentes Stromnetz (Smart Grid) und energiesparende Beleuchtung verfügen, ein ausgedehntes Radwegenetz haben und auf Mülltrennung setzen.
Projekt | Notwendige Investition |
---|---|
27 Müllverbrennungsanlagen | 3.780 |
62 Anlagen zur Hausmüllverarbeitung | 1.610 |
27 Hausmülldeponien nach EU-Standards sanieren | 1.350 |
10 Naturschutzgebiete / Nationalparks einrichten | 576 |
4 Werke zur Verarbeitung von Altöl | 300 |
4 Werke zum Fahrzeugrecycling | 100 |
2 Werke zum Batterierecycling | 100 |
4 Werke zur Sondermüllbeseitigung | 80 |
15 Wildbrücken errichten | 64 |
12 Werke zur Verarbeitung von Kriegsabfällen | 50 |
9 Baumschulen zur Aufzucht von Waldsetzlingen | 16 |
Energiewirtschaft schwenkt um auf erneuerbare Quellen
Besonders große Investitionen erfordert der Umbau der Energiewirtschaft. Kiew will sich komplett unabhängig von russischen Energielieferungen machen, den Bezug von Öl und Gas diversifizieren und die Speicherkapazitäten erhöhen. Gleichzeitig sollen alternative Energiequellen und Übertragungsleitungen ausgebaut werden. Angedacht sind 30 Gigawatt zusätzliche Leistung durch Wind- und Solaranlagen. Den grünen Strom würde die Ukraine gern in Europa verkaufen, ebenso wie grünen Wasserstoff und Ammoniak. In der Industrie drängt die Regierung auf den Einsatz bester verfügbarer Techniken und will ein effizientes Monitoring der Treibhausgasemissionen aufbauen.
Projekt | Notwendige Investition |
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7,1 GW Leistung durch erneuerbare Energiequellen | 10.000 |
2,3 GW Leistung in Wasserkraft und Pumpspeicherkraftwerken | 5.000 |
Ökologischer Umbau der Wärmekraftwerke | 2.000 |
1,4 GW flexible Stromerzeugung | 1.000 |
0,7 GW Speicherkapazitäten | 500 |