Wirtschaftsausblick | Ukraine
Stabiles Wachstum bei weiterhin hohen Risiken
Die ukrainische Wirtschaft bleibt 2024 und 2025 auf Wachstumskurs. Doch das osteuropäische Land leidet stark unter den Kriegsfolgen. Die Konjunkturrisiken bleiben unverändert hoch.
06.06.2024
Von Waldemar Lichter | Bonn
Topthema: Energie, Logistik und Fachkräfte im Fokus
Russland setzt seinen Angriffskrieg auf die Ukraine 2024 weiter fort und attackiert seit dem Frühjahr verstärkt die Energieinfrastruktur des Landes. Kraftwerke und Stromnetze werden zerbombt, um die Bevölkerung zu zermürben und die Grundlagen der Wirtschaft zu zerstören. Die Kosten für den Wiederaufbau und die Erholung des Landes beliefen sich bis Ende 2023 bereits auf 486 Milliarden US-Dollar, berechnete die Weltbank.
Doch der Ukraine-Wiederaufbau läuft bereits an – angesichts der enormen Schäden eine Aufgabe für Generationen. Zunächst geht es darum, die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft zu gewährleisten. Gesichert werden müssen zudem die Transportwege zu Land und zur See. Nur so können ukrainische Unternehmen exportieren und Einnahmen generieren.
Energiewirtschaft schwer getroffen
Die Lage im ukrainischen Energiesektor ist nach massiven Zerstörungen vom Frühjahr 2024 kritisch. Die Hälfte der Stromerzeugungskapazitäten ist außer Betrieb. Von Stromabschaltungen sind nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Industrie betroffen.
Zum Schutz vor Angriffen muss das Energiesystem komplett umgebaut werden. Die Erzeugung und Versorgung müssen stärker dezentralisiert, Stromnetze und Umspannstationen unterirdisch angelegt, erneuerbare Energiequellen ausgebaut und die Energieeffizienz gesteigert werden.
Sicherung der Logistikrouten bleibt Priorität
Die Ukraine exportiert Waren hauptsächlich auf dem Seeweg. Nachdem die russische Blockade der Schwarzmeerhäfen den ukrainischen Ausfuhren 2022 einen schweren Schlag versetzt hatte, kann die Route inzwischen wieder vollumfänglich genutzt werden. Das Exportvolumen über den wichtigsten Hafen Odessa erreicht bereits das Vorkriegsniveau.
Ukrainische Exporteure passen ihre Logistik an und lassen ihre Güter auf alternativen Routen, etwa über Polen oder die baltischen Häfen, ausliefern. Der Transport über die Straße bleibt schwierig. Grenzblockaden behindern den Warenverkehr, verursachen Verluste in Millionenhöhe und beeinträchtigen das Vertrauen in die Zuverlässigkeit ukrainischer Lieferanten.
Einberufung verstärkt Arbeitskräftemangel
Der Mangel an Arbeitskräften ist nach den Kriegshandlungen die zweitgrößte Herausforderung für die ukrainische Wirtschaft. Das neue Ukraine-Mobilisierungsgesetz macht eine längerfristige Personalplanung für Firmen noch herausfordernder.
Wirtschaftsentwicklung: Wachstum zieht 2025 deutlich an
Die ukrainische Wirtschaft entwickelt sich besser als angesichts der großen Zerstörungen zu erwarten wäre. Nach dem Einbruch der Wirtschaftsleistung 2022 um fast 30 Prozent, geht es seit Frühjahr 2023 wieder aufwärts. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte 2023 real um 5,3 Prozent zu - ausgehend von einem niedrigen Basiswert.
Die Dynamik setzt sich ungeachtet der russischen Angriffe auch 2024 fort. In den ersten vier Monaten 2024 legte das BIP nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums um 4,3 Prozent zu. Dazu trugen hohe Warenexporte, steigende Bauleistungen (getragen von öffentlich finanzierten Investitionen zur Wiederherstellung der Infrastruktur) und die Belebung beim Konsum bei.
Ukrainische Firmen schätzen ihre Lage recht positiv ein. Konjunkturtreiber sind die steigende Inlandsnachfrage, die rückläufige Inflation sowie die Möglichkeit, an eine internationale Finanzierung zu kommen. Von der Wiederherstellung der Seetransporte über die Schwarzmeer-Route profitieren vor allem der Agrarsektor, aber auch der Erzbergbau und die Metallindustrie.
Die hohen Sicherheitsrisiken, Schäden an Energieanlagen und die damit verbundenen Stromabschaltungen, gestiegene Logistik- und Arbeitskosten sowie fehlendes qualifiziertes Personal bremsen hingegen die Entwicklung.
Ungeachtet des starken 1. Quartals gehen die meisten Prognosen der Wirtschaftsdaten für 2024 von einer Abschwächung der Dynamik aus. Die ukrainische Nationalbank rechnet für das Gesamtjahr mit einem realen BIP-Plus von 3 Prozent gegenüber dem Vorjahr, der Internationale Währungsfonds (IWF) von 3,2 und die Europäische Kommission von 2,9 Prozent.
Für 2025 rechnet die EU-Kommission wieder mit einer anziehenden Dynamik und erwartet ein reales BIP-Wachstum von 5,9 Prozent. Vor allem der Wiederaufbau des Landes dürfte Wachstumstreiber Nummer 1 werden. Investitionen in den Neubau und die Sanierung von Wohnraum, Verkehrswegen und der Versorgungs- und Energieinfrastruktur werden die Wirtschaft ankurbeln.
Deutsche Perspektive: Unternehmen rechnen sich Chancen beim Wiederaufbau aus
Der Krieg hat den deutsch-ukrainischen Handel nur kurz getroffen. Die deutschen Ausfuhren gingen 2022 gegenüber dem Vorjahr wertmäßig um fast 11 Prozent zurück. Im folgenden Jahr erreichten sie den Rekordwert von rund 6,9 Milliarden Euro. Das dürfte vor allem auf umfangreiche Hilfslieferungen aus Deutschland zurückzuführen sein. Die ukrainischen Exporte nach Deutschland gingen 2023 um fast 9 Prozent auf rund 2,9 Milliarden Euro zurück.
Nach Kriegsende wird der bilaterale Handel wieder an Schwung gewinnen. Die angestrebte EU-Mitgliedschaft bringt mehr Rechtssicherheit und macht die Ukraine attraktiver für Investitionen.
Selbst unter Kriegsbedingungen reißen die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen nicht gänzlich ab. Das Interesse deutscher Unternehmen am ukrainischen Markt sei ungebrochen hoch, berichtet die Deutsch-Ukrainische Industrie- und Handelskammer (AHK Ukraine). Firmen investieren bereits wieder in der Ukraine oder bereiteten sich darauf vor, am Wiederaufbau teilzuhaben.
Besonderes Potenzial sieht die AHK im Energiesektor. Deutsche Firmen bieten Energieanlagen an und wollen Solar- und Windparks im Land entwickeln. Auch beim Thema Energieeffizienz eröffnen sich für gute Geschäftschancen. Großes Potenzial bieten auch die Bauwirtschaft und die Herstellung von Baustoffen. Wachsender Bedarf entsteht durch die Wiederherstellung des Gesundheitswesens. Auch in der Landwirtschaft sehen deutsche Firmen mehr Chancen als Risiken.