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Rahmenbedingungen
Die ungarische Regierung verunsichert Investoren durch diskriminierende Maßnahmen in der Baustoffindustrie. Erste Auszahlungen der EU-Zuschüsse werden ab 2024 erwartet.
22.09.2023
Von Kirsten Grieß | Budapest
Kurzer Prozess beim Bauantrag
Der administrative Prozess für den Bau von Wohn- und Geschäftsgebäuden in Ungarn ist unkompliziert und transparent geregelt. Allerdings können sich Zuständigkeiten kurzfristig ändern. Grundsätzlich bedarf es einer Baugenehmigung durch die örtliche Baubehörde. Diese Aufgabe übernimmt in der Regel ein lokal ansässiger Notar. Die Frist für die Erteilung der Baugenehmigung beträgt 15 Tage. Bauvorhaben mit absehbaren Umweltauswirkungen müssen vorab durch die zuständige Umweltschutzbehörde auf Basis einer Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt werden. Auch solche mehrstufigen Genehmigungsverfahren wickelt die lokale Baubehörde als One-Stop-Shop ab und übernimmt die Abstimmung mit den beteiligten Fachbehörden.
Ein Sonderfall in der ungarischen Bauwirtschaft sind Bau-, Umbau- und Erweiterungsvorhaben in Einzelhandelsgebäuden mit einer Gesamtfläche von über 400 Quadratmetern. Für Einkaufszentren dieser Größe besteht ein grundsätzliches Bauverbot. Ausnahmen sind per Sondergenehmigung und über mehrstufige Verträglichkeitsprüfungen möglich und werden angesichts neuer Shopping-Malls im Land offenbar regelmäßig gewährt. Seit 2012 versucht die Fidesz-Regierung mit dem "Plaza-Stop"-Gesetz die Konzentration auf dem Einzelhandelsmarkt einzudämmen und lokale Händler zu stärken. Die EU leitete dazu 2014 ein Vertragsverletzungsverfahren ein.
Regulatorisches Umfeld verunsichert Unternehmen
Mitte 2022 führte die ungarische Regierung Sonderertragssteuern für einzelne Branchen ein. Betroffen sind auch Baustoffhersteller für Zement, Ziegel, Baukeramik und Fliesen. Der Steuersatz beträgt 90 Prozent auf alle Verkaufserlöse, die über einem staatlich festgelegten Höchstpreis liegen. Die Verordnung wurde mehrfach modifiziert und inzwischen bis zum 1. Januar 2025 verlängert. Seit Juli 2023 müssen große CO2-Emittenten wie Zementhersteller zudem eine CO2-Abgabe von 40 Euro pro Tonne entrichten. Für Verunsicherung sorgt die Ankündigung eines neuen Gesetzes, dass dem Staat Vorkaufsrechte für bestimmte Baustoffe einräumt. Die Maßnahmen zielen vorwiegend auf ausländische Hersteller ab, was Investoren zunehmend irritiert.
Nicht nur betroffene Unternehmen kritisieren die staatlichen Eingriffe im Bausektor. Die Europäische Kommission sieht darin einen klaren Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit und klagte im Juli 2023 vor dem europäischen Gerichtshof. In Brüssel steht parallel dazu die Entscheidung an, inwiefern Ungarn für die eingefrorenen 22 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt 2021 bis 2027 und die ausstehenden 5,8 Milliarden Euro aus der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF), einem befristeten Instrument von NextGenerationEU, grünes Licht erhält.
EU-Gelder können Baumarkt wiederbeleben
Von den Haushaltsmitteln im Rahmen der Kohäsionspolitik sind allein rund 7 Milliarden Euro für Maßnahmen im Bereich Umwelt und Energieffizienz sowie integrierte Verkehrsentwicklung vorgesehen. Im Plan für die Verwendung der ARF-Mittel sind weitere 1,4 Milliarden Euro für den Ausbau der Transportinfrastruktur gelistet. Konkret soll mit 386 Millionen Euro der Austausch von Fenstern in bis zu 12.000 Haushalten und die energetische Sanierung öffentlicher Gebäude finanziert werden. Zum 31. August beantragte Ungarn außerdem vergünstigte Wiederaufbaukredite in Höhe von 3,9 Milliarden Euro. Diese sind für das ARF-Zusatzkapitel REPowerEU vorgesehen. Laut Tibor Navracsics, dem Minister für regionale Entwicklung, sollen darüber vor allem Projekte in den Bereichen Energieinfrastruktur und Energieeffizienz finanziert werden.
Brüssel hat die Zahlungen der Kohäsions- und Wiederaufbaumittel an innerstaatliche Reformen geknüpft. Diese betreffen vor allem Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit der Medien und Wissenschaften, der Rechte von Minderheiten und der öffentlichen Auftragsvergabe. Ob das auch für die Kredite zutrifft, ist umstritten. Angesichts der aktuellen wirtschaftspolitischen Schieflage ist Ungarn stärker als ohnehin auf Gelder aus Brüssel angewiesen. Im Laufe des Frühjahrs wurde daher an den von der EU vorgegebenen Meilensteinen gearbeitet, auch eine Justizreform wurde auf den Weg gebracht. Der Ball liegt seit Sommer 2023 wieder im Feld der Europäischen Union. In Budapest erwartet man bestenfalls für Mitte November eine Entscheidung. Finanzexperten bezweifeln allerdings, dass es 2023 noch zu Auszahlungen kommt. Die Hoffnung liegt in vielerlei Hinsicht auf 2024. Eine Freigabe von EU-Geldern könnte auch der Baubranche zu mehr Dynamik verhelfen.
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