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Markets International 3/24 I Schwerpunkt Freihandelsabkommen I Interview

"Kompromisse sind eine Frage von innenpolitischen Machtverhältnissen“

Der Volkswirt und Politologe Christoph Scherrer spricht im Interview über die Chancen, Risiken und Hürden von Freihandelsabkommen.

Interview: Susanne Widrat, wortwert Köln

Wie wichtig sind Freihandelsabkommen? 

Die Bedeutung von Freihandelsabkommen hängt von der jeweiligen Position innerhalb einer Volkswirtschaft ab. Heutige Handelsabkommen gehen weit über den Abbau von Zöllen auf Industriegüter hinaus. Mit Kapiteln zu technischen Standards, Dienstleistungen, grenzüberschreitendem Einsatz von Arbeitskräften und geistigem Eigentum berühren sie alle Bereiche der Wirtschaft. Einige international wettbewerbsfähige Wirtschaftssektoren profitieren von den neuen Handelsabkommen, andere, weniger wettbewerbsfähige Sektoren und ihre Arbeitskräfte verlieren entsprechend. Gelingt es, die Arbeitskräfte in die erfolgreichen Sektoren mit höherer Wertschöpfung zu verlagern, gewinnt die gesamte Volkswirtschaft. Dies ist jedoch nicht automatisch der Fall. Oftmals landen die Beschäftigten der weniger wettbewerbsfähigen Branchen in prekären Arbeitsverhältnissen des Dienstleistungssektors. 

Wie wirken sich diese Verpflichtungen auf den Handel mit Dienstleistungen aus? 

Nun, in Handelsabkommen geht es um Nichtdiskriminierung. Ausländer dürfen nicht benachteiligt werden. Während im Warenhandel einige staatliche Regelungen traditionell auf die Diskriminierung ausländischer Anbieter ausgerichtet sind, haben sie im Dienstleistungsbereich dagegen ganz andere Motive: Sie sollen sicherstellen, dass grundlegende Dienstleistungen flächendeckend und allgemein zugänglich erbracht werden, dass Qualitätsstandards eingehalten werden und dass demokratische Teilhabe und Kontrolle gewährleistet sind. Die Anwendung der einfachen Nichtdiskriminierungsregel greift jedoch tief in ein Regelwerk ein, das anderen Zielen als der Behinderung oder Erleichterung grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit verpflichtet war und ist.

Welchen Chancen, aber auch Risiken sind mit dem Abschluss von Freihandelsabkommen für die beteiligten Länder verbunden?

Für Entwicklungsländer bieten Freihandelsabkommen die Chance, mehr in reiche Märkte exportieren zu können. Das Risiko besteht darin, dass sie in der traditionellen internationalen Arbeitsteilung verharren. Den Zugang zu den reichen Märkten für ihre bisherige Produktpalette müssen sie mit der Öffnung für die fortgeschrittenen Produkte und Dienstleistungen der reichen Länder erkaufen. Dies erschwert es ihnen, selbst in die fortgeschritteneren Bereiche vorzudringen.

Auf welche Länder trifft das eine oder andere zu?

Der größte Erfolgsfall, die Volksrepublik China, hat sich gezielt und selektiv dem Weltmarkt geöffnet. Zu den Verlierern gehören die Länder, die unter dem Druck der vom IWF verordneten Strukturanpassungsprogramme ihre Märkte stark für ausländische Konkurrenz geöffnet haben.

Worauf kommt es bei Verhandlungen von Freihandelsabkommen an? 

Die zentrale Währung bei der Aushandlung von Handelsabkommen ist die Kaufkraft des jeweiligen nationalen Marktes. Je höher die Kaufkraft, desto begehrter ist der Zugang zu diesem Markt. Das heißt, reiche Länder sind grundsätzlich im Vorteil. Die Komplexität der neuen „tiefen“ Freihandelsabkommen erfordert viel Spezialwissen. Auch hier sind reiche Länder im Vorteil, die sich große Verhandlungsdelegationen mit hoch bezahlten Expertinnen leisten können.

Wie gelingt es auf dem internationalen Parkett, Kompromisse zu schließen? 

Asymmetrische Kompromisse sind relativ leicht zu erzielen: Der Stärkere setzt mehr durch. Schwieriger wird es, wenn die Machtverhältnisse zwischen den Verhandlungspartnern ausgeglichener sind. Dann müssen beide Seiten die Interessen des jeweils anderen berücksichtigen. Dies gelingt nur, wenn im jeweiligen Land diejenigen, die durch die Begehrlichkeiten des anderen Landes Nachteile befürchten müssen, sich entweder politisch nicht Gehör verschaffen können oder anderweitig kompensiert werden. Es ist also vor allem eine Frage der innenpolitischen Macht- und Interessenkonstellationen, inwieweit Kompromisse möglich sind.

Ab wann sind Verhandlungen zum Scheitern verurteilt? 

Verhandlungen scheitern, wenn die reichen Länder nicht bereit sind, auf die Interessen der armen Länder einzugehen. Deshalb sind die Verhandlungsrunden in der Welthandelsorganisation (WTO) gescheitert. Die EU, die USA und Japan waren nicht bereit, ihre Agrarmärkte im Gegenzug für einen besseren Investitionsschutz, die Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens und den Abbau von Subventionen für Staatsbetriebe zu öffnen.

Was können einzelne Länder oder sogar einzelne Branchen tun, damit ihre Interessen stärker in einem Abkommen berücksichtigt werden?

Bündnisse schließen. Brasilien unter den ersten Präsidentschaften von Lula war diesbezüglich im Rahmen der WTO erfolgreich.

Kommt es bei der Verhandlung von Freihandelsabkommen ausschließlich auf die Wahrung wirtschaftlicher Interessen an? 

Zwischenstaatliche Abkommen, gleich welcher Art, müssen der Bevölkerung zugute kommen. Deshalb sollte ein Handelsabkommen nicht nur den Eigentümern von Wirtschaftsunternehmen Vorteile bringen. Handelsabkommen sollten auch der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit verpflichtet sein.

Welche Freihandelsabkommen funktionieren Ihrer Meinung nach gut beziehungsweise nicht? 

Die Freihandelsabkommen der EU sind meines Erachtens in Bezug auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit zahnlos, das heißt die Nachhaltigkeitskapitel verfügen über keine wirksamen Durchsetzungsmechanismen. Dies gilt auch für das noch nicht in Kraft getretene Abkommen mit dem südamerikanischen Mercosur. Dessen Nachhaltigkeitskapitel enthält keine Bestimmungen zu seiner Durchsetzung. Ein positives Beispiel ist das wirksame Arbeitsrechtskapitel im überarbeiteten nordamerikanischen Handelsabkommen USMCA.

Mit welchen Ländern oder Regionen sollte die EU Ihrer Meinung nach künftig in Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen eintreten?

Ich plädiere für ein Verhandlungsmoratorium, da die Verhandlungspositionen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit festgelegt wurden und somit eine Konzernagenda widerspiegeln. Statt der beschriebenen Konzernagenda zu folgen, sollte sich eine Neuausrichtung der Weltwirtschaft an vier Prinzipien orientieren: Multilateralismus, wirtschaftspolitischer Spielraum für nachhaltige Entwicklung, Kompensation der Verlierer und vor allem Internalisierung externer Effekte. 

Was bewirkt eine solche Neuausrichtung?

Für einen fairen Interessenausgleich sind multilaterale Verhandlungsrunden unverzichtbar. Dabei sollte Spielraum für nachholende und nachhaltige wirtschaftspolitische Maßnahmen gelassen werden. Da die Marktpreise Umweltschäden und die Missachtung von Menschenrechten, die sogenannten externen Effekte bei der Produktion von Gütern, nicht erfassen, sind Maßnahmen durch Lieferkettengesetze und auch Zölle notwendig, um die Kosten nachhaltigen Wirtschaftens einzupreisen. Die Corona-Pandemie lehrt, dass insbesondere die Internalisierung der Kosten einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung vordringlich ist.

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