Rechtsbericht Arbeits- und Arbeitsgenehmigungsrecht
Arbeitsrecht
Das Arbeitsrecht in Marokko weist mehrere Besonderheiten auf. Auf der einen Seite ist es streng reguliert, auf der anderen Seite erweist es sich auch als flexibel anwendbar.
09.04.2025
Von Christian Steiner (Ule & Steiner SLP) | Casablanca, Sophie Greiner (MIDEAST|Law) | Casablanca
Das marokkanische Arbeitsrecht ist im "Code du Travail" (Loi n° 65-99) geregelt, der durch verschiedene Dekrete ergänzt wird. Für Führungskräfte sind zudem das Gesellschaftsgesetz (Loi n° 5-96) und das Gesetz über Aktiengesellschaften (Loi n° 17-95) relevant. Bei ausländischen Beschäftigten sind spezielle Vorschriften des Ausländer- und Aufenthaltsrechts zu beachten.
Mindestlohn: Der marokkanische Mindestlohn („SMIG“) wird regelmäßig per Verordnung angepasst. Arbeitnehmer haben zudem Anspruch auf einen Dienstalterbonus, der gestaffelt nach Dienstjahren gewährt wird. Seit dem 01.01.2025 beträgt der marokkanische Mindestlohn für nichtlandwirtschaftliche Tätigkeiten
Für landwirtschaftliche Tätigkeiten wird der Mindestlohn ab dem 01.04.2025 auf 93 MAD (aktuell ca. 8,94 EUR) pro Arbeitstag festgesetzt. |
Arbeitsstunden / Regelarbeitstage pro Woche: Im Industrie-, Handel- und Dienstleistungssektor- beträgt die wöchentliche Arbeitszeit 44 Stunden (maximal 10 Stunden pro Tag). In der Landwirtschaft sind es 48 Stunden pro Woche ohne tägliches Limit. |
Zulässige Überstunden: Überstunden sind gesetzlich geregelt und werden als Arbeitszeit definiert, die über die festgelegten täglichen, wöchentlichen oder jährlichen Grenzen hinausgeht. Unternehmen können bis zu 20 zusätzliche Überstunden pro Monat anordnen, mit einem jährlichen Maximum von 100 Stunden pro Arbeitnehmer. |
Bezahlte Feiertage: Es gibt acht gesetzliche nationale Feiertage pro Jahr, die jährlich per Dekret festgelegt werden. Dazu gehören der Throntag (30. Juli), der Tag des Grünen Marsches (6. November) sowie der Tag der Unabhängigkeit (18. November). Hinzu kommen sechs gesetzliche religiöse Feiertage (insbesondere Aïd al-Fitr, Aïd al-Adha, Mawlid An-Nabawi), die sich nach dem islamischen Mondkalender richten. |
Bezahlte Urlaubstage: Arbeitnehmer haben nach sechs Monaten ununterbrochener Beschäftigung Anspruch auf 1,5 Tage bezahlten Urlaub für jeden Monat tatsächlicher Arbeit, also 18 Tage pro Jahr. Für Arbeitnehmer unter 18 Jahren erhöht sich der Anspruch um zwei Tage pro Monat. Nach jeweils fünf Jahren Betriebszugehörigkeit erhöht sich der Anspruch um 1,5 Tage, maximal jedoch auf 30 Tage. |
Mutterschutz: Schwangere Arbeitnehmerinnen haben Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub von insgesamt 14 Wochen, der in der Regel in zwei Phasen unterteilt wird: sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt. Während des Mutterschaftsurlaubs besteht ein Kündigungsschutz, der es Arbeitgebern untersagt, schwangere Arbeitnehmerinnen zu entlassen. Zudem sind Arbeitgeber verpflichtet, schwangeren Frauen geeignete Arbeitsbedingungen zu bieten, um ihre Gesundheit und die ihres ungeborenen Kindes zu schützen. |
Tage mit Lohnfortzahlung bei Krankheit: Im Krankheitsfall haben Arbeitnehmer Anspruch auf Zahlung von Krankengeld ab dem vierten Krankheitstag. Bei einer voraussichtlichen Krankheitsdauer von mehr als vier Tagen ist innerhalb von 48 Stunden ein ärztliches Attest vorzulegen. |
Probezeit: In Marokko ist eine Probezeit nicht gesetzlich vorgeschrieben; es steht den Parteien jedoch frei, eine solche zu vereinbaren. Dabei sind folgende Regelungen zu beachten: Unbefristete Arbeitsverträge:
Befristete Arbeitsverträge:
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In Marokko bedürfen Arbeitsverträge nicht notwendig der Schriftform. Falls jedoch ein schriftlicher Vertrag gewählt wird, müssen davon zwei Exemplare erstellt werden (Artikel 15 Abs. 2 ArbG), und bei unbefristeten Verträgen sollte eine Legalisierung der Unterschriften erfolgen. Unterzeichnen kann entweder ein gesetzlicher Vertreter des Unternehmens oder eine ausdrücklich dazu bevollmächtigte Person, unabhängig von der Position des Arbeitnehmers.
Die Vertragssprache sollte Arabisch, Tamazight (Berberisch) oder Französisch sein. Zwar sind zweisprachige Fassungen mit Englisch oder Deutsch denkbar, doch wenn eine dieser Sprachen als führende Vertragssprache bestimmt wird, ist eine beglaubigte Übersetzung eines vereidigten Übersetzers notwendig, spätestens im Streitfall. Dies kann die Kosten für den Vertrag und spätere Änderungen erheblich erhöhen. Falls kein schriftlicher Vertrag vorliegt, haben Gerichte in der Vergangenheit eidesstattliche Erklärungen oder Gehaltsabrechnungen als Nachweis für das Bestehen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses akzeptiert.
Es gibt jedoch Fälle, in denen die Schriftform gesetzlich vorgeschrieben ist. Dazu gehören insbesondere die Anstellung eines Handelsvertreters oder der Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags. Verzichten die Parteien bei einem Arbeitsvertrag auf die Schriftform, gilt dieser als unbefristet.
Soll ein Arbeitnehmer an betriebsinterne Richtlinien gebunden werden, empfiehlt es sich, nicht nur einen allgemeinen Verweis darauf in den Vertrag aufzunehmen. Die Richtlinien sollten als Anhang beigefügt werden oder der Arbeitnehmer schriftlich bestätigen, dass er diese erhalten, gelesen und akzeptiert hat.
Befristungsmöglichkeiten
In Marokko unterliegt die Befristung von Arbeitsverträgen gesetzlichen Vorgaben. Ein befristeter Arbeitsvertrag ist nur zulässig, wenn ein legitimer sachlicher Grund vorliegt. Dazu gehören insbesondere:
- Saisonarbeit, beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Tourismussektor mit schwankender Nachfrage;
- Vorübergehender Ersatz für einen abwesenden Arbeitnehmer, etwa bei Elternzeit, längerer Krankheit oder einer Beurlaubung;
- ein erhöhter, aber zeitlich begrenzter Arbeitsbedarf, beispielsweise bei Auftragsspitzen, Großprojekten oder Veranstaltungen;
- ein zeitlich begrenztes Projekt, bei dem die Arbeitsstelle mit dem Abschluss des Projekts endet.
Die maximale Laufzeit eines befristeten Arbeitsvertrags beträgt ein Jahr, wobei eine einmalige Verlängerung zulässig ist. Wird der Arbeitnehmer nach Ablauf dieser Frist weiterhin beschäftigt, gilt das Arbeitsverhältnis automatisch als unbefristet.
Ein befristeter Vertrag kann unwirksam sein, wenn der tatsächliche Arbeitsumfang oder die Art der Tätigkeit nicht in die oben genannten Kategorien fällt. In solchen Fällen kann das Arbeitsgericht auf Antrag oder von Amts wegen den Vertrag als unbefristeten Arbeitsvertrag umqualifizieren.
Spezialregelungen für ausländische Arbeitnehmer
Die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in Marokko unterliegt spezifischen gesetzlichen Bestimmungen, die sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer beachten müssen.
Genehmigungsverfahren: Arbeitgeber, die ausländische Mitarbeiter einstellen möchten, sind zunächst verpflichtet, eine Genehmigung des marokkanischen Arbeitsministeriums einzuholen. Der Arbeitsvertrag muss dabei dem von der Verwaltung vorgegebenen Modell, dem sogenannten "Contrat de Travail Etranger" (CTE), entsprechen.
Nachweis der Nichtverfügbarkeit einheimischer Arbeitskräfte: Sodann ist eine Bestätigung der Agence Nationale de Promotion de l’Emploi et des Compétences (ANAPEC) einzuholen, die bescheinigt, dass keine marokkanischen Staatsbürger für die betreffende Position verfügbar oder qualifiziert sind. Diese Bescheinigung ist Voraussetzung für die Erteilung der Arbeitserlaubnis.
Bestimmte Fälle sind von dieser Regelung ausgenommen, beispielsweise wenn Mitarbeiter von Muttergesellschaften zur Tochtergesellschaft nach Marokko entsandt werden.
Erteilung der Arbeitserlaubnis: Für die Beantragung der Arbeitserlaubnis sind bei der zuständigen Behörde des marokkanischen Arbeitsministeriums die erforderlichen Unterlagen einzureichen. Die Bearbeitungszeit für die Genehmigung liegt in der Regel zwischen drei Wochen und zwei Monaten. Nach Erhalt der Arbeitserlaubnis genießen ausländische Arbeitnehmer die gleichen Rechte wie einheimische Beschäftigte und können ihre Gehälter ins Ausland transferieren.
Visum & Aufenthaltsgenehmigung: Im Anschluss an die Erteilung der Arbeitserlaubnis können, hierauf basierend, Arbeitsvisum und Aufenthaltsgenehmigung für die ausländischen Arbeitnehmer beantragt werden.
Betriebliche Ordnung
Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten sind gemäß Artikel 138 ArbG verpflichtet, eine betriebsinterne Ordnung ("règlement intérieur") zu erstellen, welche innerhalb von drei Monaten nach Betriebsaufnahme einzuführen und der zuständigen Behörde ("autorité gouvernementale chargée du travail") vorzulegen ist. Dabei sind mindestens zu nennen:
- Arbeitszeiten und Pausen
- Regelungen zu Abwesenheiten und Urlaub
- Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften
- Disziplinarmaßnahmen und ihre Anwendung
Die betriebliche Ordnung ist den Arbeitnehmern zugänglich zu machen, indem sie beispielsweise an gut sichtbaren Orten im Betrieb ausgehängt wird. Auf Verlangen ist den Arbeitnehmern auch eine Kopie auszuhändigen.
Gewerkschaftsrechte / Streikrecht
In der marokkanischen Verfassung von 2011 ist das Recht der Arbeitnehmer, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, in Artikel 8 verankert. Zusätzlich schützt Artikel 29 das Streikrecht und die Versammlungsfreiheit. Das Arbeitsgesetz konkretisiert dieses Recht und legt fest, dass Gewerkschaften berechtigt sind, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten und Tarifverhandlungen zu führen.
Am 03.02.2025 wurde ein neues Streikgesetz (Loi organique n° 97.15) verabschiedet, das die Bedingungen und Modalitäten für die Ausübung des Streikrechts neu definiert. Das Gesetz erweitert das Streikrecht auf alle Berufstätigen, einschließlich Hausangestellter und Selbstständiger, und sieht Geldstrafen von bis zu 200.000 MAD für Arbeitgeber vor, die das Streikrecht behindern. Es führt zudem die Streikdefinition gemäß den Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein und erkennt Solidaritäts- und politische Streiks ausdrücklich an.
Dennoch wird das Gesetz kontrovers diskutiert. Gewerkschaften kritisieren, dass das Gesetz ohne ausreichende Abstimmung mit den Sozialpartnern verabschiedet wurde und befürchten, dass das Gesetz das Streikrecht in der Praxis sogar einschränken könnte. Denn das Gesetz erlaubt es der Regierung, Streiks, die die öffentliche Ordnung stören, einzuschränken oder gar zu verbieten. Mehrere Gewerkschaften haben daher Klage beim Verfassungsgericht eingereicht und argumentieren, dass das Gesetz gegen Artikel 29 der Verfassung verstoße, der die Versammlungs- und Streikfreiheit garantiert.
Tarifvertragssystem
Das marokkanische Arbeitsrecht erkennt Tarifverträge ("conventions collectives de travail") als Instrument zur Festlegung von Arbeitsbedingungen an. Dabei definiert Artikel 92 ArbG die Tarifverträge als "Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zur Festlegung von Arbeitsbedingungen".
Diese Verträge werden somit ausgehandelt und können auf betrieblicher, sektoraler oder nationaler Ebene abgeschlossen werden. Sie ergänzen die gesetzlichen Bestimmungen und können vorteilhaftere Regelungen für Arbeitnehmer enthalten. Die genauen Verfahren und Anforderungen für den Abschluss von Tarifverträgen sind im ArbG in den Artikel 92 ff. festgelegt.
Vertragsbeendigung
Gemäß Artikel 39 ArbG kann der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag bei schwerwiegendem Fehlverhalten des Arbeitnehmers fristlos kündigen. Das Gesetz normiert die Gründe abschließend:
- Unentschuldigtes Fehlen von mehr als vier Tagen oder acht halben Tagen innerhalb eines Jahres;
- Weigerung, arbeitsrelevante Anweisungen zu befolgen;
- Diebstahl oder Vertrauensbruch;
- Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen.
Erforderlich ist, dass hierdurch der ordentliche Betrieb beeinträchtigt wird. Zur Feststellung des schwerwiegenden Fehlverhaltens hat die Arbeitsinspektion ein Protokoll zu erstellen.
Wenngleich dies seltener vorkommen dürfte, steht auch dem Arbeitnehmer ein fristloses Kündigungsrecht bei schwerwiegendem Fehlverhalten des Arbeitgebers zu. Die Gründe hierfür sind in Artikel 40 ArbG genannt.
Auch im Falle einer einvernehmlichen Kündigung ist die Einbindung des Arbeitsinspektors von zentraler Bedeutung, da in Ermangelung der Protokollierung der Vereinbarung diese selbst bei Auszahlung der Abfindung und Entschädigung unwirksam ist und daher das Unternehmen sowohl prozessual als auch steuer- und abgabenrechtlich exponiert.
Kündigungsfristen
Nach dem marokkanischen Arbeitsrecht müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Kündigungsfrist einhalten, außer bei grobem Fehlverhalten einer der Parteien oder im Falle höherer Gewalt (Art. 43 ArbG). Die Frist ist abhängig von der Dauer des Arbeitsverhältnisses sowie von der Position des Arbeitnehmers.
Dauer der Betriebszugehörigkeit | Kündigungsfrist für leitende Angestellte | … nicht leitende Angestellte |
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< 1 Jahr | 1 Monat | 8 Tage |
1 - 5 Jahre | 2 Monate | 1 Monat |
> 5 Jahre | 3 Monate | 2 Monate |
Der Arbeitsvertrag, der Tarifvertrag, eine interne Betriebsregelung oder eine gängige Betriebspraxis dürfen keine kürzere Kündigungsfrist enthalten.
Abfindungsregelungen
Entschädigung bei fristloser Kündigung
Jede fristlose Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags oder die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt – sofern sie nicht durch ein schweres Fehlverhalten begründet ist – zu der Verpflichtung der verantwortlichen Partei, der anderen Partei eine Entschädigung zu zahlen. Diese kompensiert die ausfallende Vergütung während der Kündigungsfrist, die der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn er an seinem Arbeitsplatz geblieben wäre (Art. 51 ArbG).
Die "Kündigungsentschädigung" bezieht sich auf eine Situation, in der der Arbeitsvertrag beispielsweise mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist gekündigt wurde und der Arbeitnehmer für diese drei Monate von der Arbeit freigestellt wird, aber in dieser Zeit sein Gehalt erhält. Dies hat im Grunde die gleiche Wirkung wie eine zusätzliche Entschädigung. Während der Kündigungsfrist ist der Arbeitnehmer jedoch weiterhin zur Arbeit verpflichtet, und es ist allein die Entscheidung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer von der Arbeit freizustellen.
Entschädigung bei ungerechtfertigter Kündigung
Im Falle eine ungerechtfertigten Kündigung ist eine Entschädigung gemäß Art. 41 des Arbeitsrechtsgesetzes in Höhe von 1,5 Monatsgehältern pro Dienstjahr bis zu einem Höchstbetrag von 36 Monatsgehältern (der erst nach 24 Dienstjahren erreicht wird) fällig. Da diese Abfindung den Schaden aufgrund einer ungerechtfertigten Entlassung durch den Arbeitgeber ausgleichen soll, wird sie im Falle einer einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht fällig. Ebenso ist sie ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer in einer höheren Position im Unternehmen bleibt.
Frühere Dienstzeiten werden bei der Berechnung der Abfindung und Kündigungsentschädigung angerechnet. Eine vertragliche Beschränkung der Anrechnung, beispielsweise beim Übertritt aus einer anderen Konzerngesellschaft ist nicht zulässig.
Auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen und der einschlägigen Rechtsprechung lässt sich relativ leicht die Entschädigungshöhe berechnen, die ein Arbeitnehmer im Falle einer Klage gerichtlich erwirken könnte. Diese Zahl ist auch als Verhandlungsgrundlage mit dem Arbeitnehmer nützlich, um das Prozessrisiko und die Prozesskosten realistisch abzuwägen.