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Gemischte Signale für Brasiliens Chemieindustrie
Seit Jahren steigen die Chemieimporte auf immer neue Rekordhöhen. Nun setzt Brasilien Anreize für die Düngerproduktion. Doch petrochemische Vorprodukte verlieren Begünstigungen.
31.10.2022
Von Gloria Rose | São Paulo
Brasiliens Wirtschaft schneidet auch 2022 deutlich besser ab als zu Beginn des Jahres erwartet. Dennoch drückt die Inflation auf die Stimmung. Die Verbraucher schränken den Kauf von langlebigen Konsumgütern ein. Dies belastet die Gewinnmargen der Hersteller von Farben und Lacken. Selbst bei Agrarchemikalien sinkt der Absatz aufgrund der stark gestiegenen Preise leicht. Entsprechend entwickelte sich die Nachfrage nach Industriechemikalien im 1. Halbjahr 2022 leicht rückläufig.
Hohe Weltmarktpreise sorgen für starken Anstieg der Chemieeinfuhren
Angesichts der stark gestiegenen Weltmarktpreise erwartet der Verband der Chemieindustrie Abiquim neue Rekordwerte bei den Chemieimporten. Im 1. Halbjahr 2022 führte Brasilien Chemikalien im Wert von 38,5 Milliarden US-Dollar (US$) ein. Das waren nominal knapp 54 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Mengenmäßig ging die Einfuhr von Industriechemikalien allerdings zurück. Lokale Fabrikanten steigerten die Produktion und konnten Marktanteile gewinnen. Somit nahm die hohe Importabhängigkeit im Vergleich zum Vorjahr leicht ab. In den ersten sieben Monaten 2022 wurde 42 Prozent der heimischen Nachfrage an Industriechemikalien über Importe gedeckt. Im Vorjahr lag dieser Anteil noch bei 45 Prozent.
Die eben erst gewonnenen Marktanteile kann die heimische Industrie aber wieder verlieren. Schließlich legte die Außenwirtschaftskammer Camex im August 2022 deutlich vergünstigte Einfuhrzölle für vier wichtige Kunststoffe in Primärform fest. Für einen Zeitraum von zwölf Monaten wird der Abgabensatz für Ethylenalpha-Olefin-Copolymere, Polyvinylchlorid (PVC), Propylen-Copolymere (PPC) und Polyethylenterephthalat (PET) von bisher 11,2 auf 3,3 bis 4,4 Prozent herabgesetzt.
Angesichts der hohen Weltmarktpreise erwartet Abiquim einen neuen Rekordwert beim Handelsdefizit mit Chemieprodukten: Im Jahr 2022 könnte der Fehlbetrag um 40 Prozent auf 65 Milliarden US$ ansteigen.
Grundchemie braucht Fördermaßnahmen
Für Braskem bedeutet die Senkung der Zollsätze, die heimische Hersteller vor Importkonkurrenz schützten, eine herbe Minderung der Gewinnmargen. Brasiliens Petrochemiegigant kündigte an, geplante Investitionen zu überdenken. Schließlich stellt auch das Ende des Programms REIQ (Regime Especial da Indústria Química) die petrochemische Industrie vor große Herausforderungen. Seit Juli 2022 können die etwa 20 Hersteller das Förderprogramm nicht mehr nutzen.
Ohne die Erleichterungen könne die Basischemie nicht im internationalen Wettbewerb bestehen, denn die Steuerlast liege nahezu doppelt so hoch wie in Europa und den USA, mahnt Ciro Marino, der Präsident von Abqiuim. Zurzeit wirbt der Chemieverband in der Abgeordnetenkammer für eine Änderung des Gesetzes 14.374/2022. Dadurch würden die Begünstigungen etappenweise bis 2027 auslaufen.
Trotz der positiven Absatzentwicklung stocken die Investitionen in die Chemieindustrie seit einem Jahrzehnt. Für neue Großprojekte mangelt es an industriepolitischen Strategien und somit an Vorhersehbarkeit. Denn nicht nur die als "Custo Brasil" bekannten Ineffizienzen wie die hohe Steuerlast verringern die Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens. Problematisch sind auch die relativ hohen Kosten für Strom, Naphtha und Gas.
Öffnung des Gasmarkts als Chance
Im April 2021 verabschiedete die Regierung den Rechtsrahmen zur Öffnung des Gasmarktes. Neben der Förderung der Produktion von Biomethan sollen dadurch auch Investitionsanreize zur intensiveren Verwertung von Erdgas aus den tief liegenden Pré-Sal-Feldern gesetzt werden. Investitionen begünstigt zudem der stark gestiegene Preis für Flüssigerdgas (LNG).
Der Verband großer Energiekonsumenten Abrace mahnt die jedoch unzulängliche Regulierung auf Ebene der Bundesstaaten an. In dem Ranking von Abrace schneiden selbst die führenden Staaten Bahia, Rio Grande do Norte und Espírito Santo noch nicht befriedigend ab. Der halbstaatliche Großkonzern Petrobras versorgt immer noch 90 Prozent des Gasmarktes. Erste private Vertriebsunternehmen schließen jedoch bereits Lieferverträge mit Großabnehmern ab.
Trend zu ESG und Elektrifizierung verbessern die Aussichten in Brasilien
Neben der Entwicklung des Gasmarkts sorgen die günstigen Voraussetzungen zur Elektrifizierung chemischer Prozesse für Impulse. Mit einer vorbildlich sauberen Energieversorgung gehört Brasilien zu den ersten Ländern weltweit, in denen grüner Wasserstoff kostengünstiger als blauer Wasserstoff verfügbar sein wird. Zwar hat die Regierung immer noch keine nationale Strategie für die Wasserstoffwirtschaft verabschiedet, doch investiert Unigel bereits 120 Millionen US$ in Brasiliens erste Industrieanlage für grünen Ammoniak. Braskem und Petrobras haben sich zur Klimaneutralität bis 2050 verpflichtet und richten ihre Investitionen dahingehend aus.
Investitionen in Düngemittel und Chlor-Alkali-Anlagen
Mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit will Unipar bis 2030 rund 260 Millionen US$ investieren. Stimuliert durch den Aufbruch in Brasiliens Wasserwirtschaft erweitert Lateinamerikas größter Chlor-Alkali-Hersteller die Produktion mit einer neuen Anlage in Camaçari (Bahia).
Auch bei Düngemitteln sind neue Investitionen zu erwarten. Über den Gesetzesvorschlag PL 3.507/2021 werden derzeit die Steueranreize des Förderprogramms PROFERT festgelegt. Zudem treibt Petrobras den Verkauf der zwei Stickstoffverarbeitungsanlagen Ansa in Araucária (Paraná) und UFN3 in Três Lagoas (Mato Grosso do Sul) voran.
Projektbezeichnung | Investitionssumme (Mio. US$)* | Projektstand | Anmerkung/Ansprechpartner |
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Abschluss der Arbeiten an der Gasleitung Gasig in Itaboraí (Rio de Janeiro); Bau einer Gaskompressionsstation und neuer Pipelines | 2.226 | Investitionszyklus 2022-2030 | NTS |
Investitionen in Explorationsaktivitäten | 1.020 | Investitionszyklus 2022-2026 | Petrobras |
Installation einer Raffinerie im Pecém-Komplex (Ceará) | 600 | Baubeginn 2023; Inbetriebnahme geplant für 2026 | |
Bau einer Anlage für grünen Wasserstoff und grünes Ammoniak in Camaçari (Bahia) | 120 | Inbetriebnahme geplant für Ende 2023 | Unigel/Thyssenkrupp Nucera |
Bau einer Schwefelsäureanlage in Camaçari (Bahia) | 93 | Angekündigt im April 2022 | |
Ausbau und Modernisierung des Produktionskomplexes für Acrylsäure, Butylacrylat und Superabsorber in Camaçari (Bahia) | 65 | Angekündigt im August 2022 | |
Arbeiten für die Verbindung zwischen dem Flüssiggasterminal von Centrais Elétricas de Sergipe (Celse) und dem TAG-Pipelinenetz | 56 | Inbetriebnahme geplant für 2024 | |
Arbeiten für die Installation der Gasleitung Gasfor II (Ceará) | 46 | Lizenz im Februar 2022 erhalten | |
Bau einer Düngemittelfabrik in São Luis do Maranhão (Maranhão) | 46 | Inbetriebnahme geplant für 2023 | |
Bau einer Chlor-Alkali-Anlage in Camaçari (Bahia) | 43 | Inbetriebnahme geplant für 1. Quartal 2024 |
Umstrukturierung im Gang
In der globalen Welle von Fusionen und Übernahmen richtet sich das Interesse multinationaler Konzerne auch auf brasilianische Aktiva. Im Jahr 2021 übernahm der thailändische Kunststoffkonzern Indorama Ventures (IVL) Oxiteno der brasilianischen Gruppe Ultra. Petrobras verkaufte im Juli 2022 seinen Anteil an Deten Química an den spanischen Konzern CEPSA Química. Die Aktienanteile am Petrochemiekonzern Braskem dürften erst 2023 veräußert werden. Zu den Interessenten gehört das US-amerikanische Private-Equity-Unternehmen Apollo Global Management.