Mit einer umfassenden Liberalisierung will die Ukraine nach Kriegsende die Konjunktur in Schwung bringen. Innerhalb von zehn Jahren soll sich die Wirtschaftsleistung verdreifachen.
Der Plan von Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko setzt auf einen Aufschwung durch die Entfesselung der Marktkräfte und weitreichende Liberalisierung. "Wirtschaftliche Freiheit beginnt da, wo der Staat endet", schrieb die Ministerin in einem Beitrag für die Ukrainska Pravda. Auf dem Weg zu mehr Freiräumen für die Wirtschaft und hohem Wachstum sind zehn Schritte geplant.
Schritt 1: Staatsquote senken
Als ersten Schritt drängt das Wirtschaftsministerium darauf, die Staatsquote in der Ukraine deutlich zu senken - also den Anteil der Staatsausgaben am BIP. Die Quote lag vor Kriegsausbruch laut Swyrydenko bei 40 bis 45 Prozent. Innerhalb von zehn Jahren könnte der Anteil auf 20 Prozent sinken, hofft die Ministerin. Dazu sollen unter anderem niedrigere Steuern beitragen. Allerdings dürften der anstehende Wiederaufbau und die sozialen Verwerfungen infolge des Krieges in der Anfangsphase eher eine aktivere Rolle des Staates verlangen.
Schritt 2: Diversifizierung der Wirtschaft
Der russische Angriffskrieg hat gezeigt, wie anfällig eine Volkswirtschaft ist, in der Großbetriebe dominieren. Die Zerstörung der beiden Stahlwerke Asovstal und Illich Steel in Mariupol haben die gesamte Metallurgiebranche des Landes gelähmt. Die Chemieindustrie wurde durch den Beschuss des Koksherstellers Avdiivka Coke Plant im Donezker Gebiet und der Raffinerie Krementschuk im Gebiet Poltawa stark in Mitleidenschaft gezogen.
Die Alternative dazu sei eine Wirtschaft, in der kleine und mittelständische Betriebe dominieren, ähnlich wie in Polen, Tschechien oder dem Vereinigten Königreich, argumentiert Wirtschaftsministerin Swyrydenko. In den wohlhabenden Ländern habe der Mittelstand einen Anteil von 60 Prozent und mehr an der Wirtschaftsleistung. In der Ukraine liege er bei unter 50 Prozent, wobei es zu wenig kleine und Kleinstunternehmen gebe.
Schritt 3: Freies regulatorisches Umfeld
Swyrydenko tritt dafür ein, den Unternehmen weitgehende Freiheiten zu gewähren. Sie können "alles machen, was nicht die Freiheit anderer Menschen einschränkt oder Gefahren für die Gesellschaft hervorruft."
Schon während des Krieges wurden nach Angaben des Wirtschaftsministeriums 500 Genehmigungsvorschriften abgeschafft und durch eine Informationspflicht ersetzt. Die Unternehmen müssen dabei nur noch erklären, dass sie die Vorschriften erfüllen. Die Fristen für den Erwerb von Eigentumsrechten an Grundstücken sollen von 18 auf 3 Monate sinken. Bei Wiederaufbauprojekten ab einem Wert von 500.000 Euro sind städtebauliche Auflagen und Einschränkungen nicht bindend, sofern die baurechtlichen Vorschriften eingehalten werden.
Geplant ist außerdem, die als lästig empfundenen Kontrollbesuche durch Brandschutz- oder Arbeitsschutzbehörden abzuschaffen. Diese Aufgaben können Experten von Versicherungen übernehmen, die ein Interesse daran haben, dass versicherte Betriebe ihre Auflagen einhalten.
Schritt 4: Rechtsstaatlichkeit
Die Unternehmer sollen ihre Rechte verteidigen können. Dafür braucht die Ukraine ein unabhängiges und modernes Gerichtssystem und funktionierende Rechtschutzorgane. Der am 23. Juni 2022 verliehene Status eines EU-Beitrittskandidaten sollte die Reform des Rechtssystems beschleunigen.
Swyrydenko schlägt eine Abkürzung auf dem Weg zu mehr Rechtssicherheit vor und verweist auf das Beispiel Kasachstan. Der zentralasiatische Staat hat in seinem Zivilrechtssystem für Rechtsstreitigkeiten und Streitbeilegung das englische Recht eingeführt, das weltweit bei Geschäftstransaktionen bevorzugt wird. Das könnte ein Vorbild sein, um die Rechtsbeziehungen der ukrainischen Unternehmen untereinander auf eine solide Grundlage zu stellen, meint die Vizepremierministerin.
Schritt 5: Export als Wachstumsmodell
Die Exportquote des ukrainischen BIP lag 2021 bei 33 Prozent: Einer Wirtschaftsleistung von 198 Milliarden US$ stand ein Ausfuhrwert von 66 Milliarden US$ gegenüber. “Aber unser Export hat einen großen Nachteil: 75 Prozent entfallen auf Rohstoffe“, beschreibt Swyrydenko. Für viele entwickelte Länder sei die Ukraine nur ein Rohstofflieferant. "Wir verkaufen ihnen eine ganze Tonne Weizen für 350 US-Dollar und sie verkaufen uns dafür ein iPhone."
Das Wirtschaftsministerium würde die Quote gern umdrehen und den Rohstoffanteil an den Exporten auf 25 Prozent senken. Drei Viertel der Erlöse sollen aus verarbeiteten Produkten kommen.
Qualität und Wertschöpfung der exportierten Erzeugnisse müssten steigen, verlangt Swyrydenko. Kanada verkaufte laut ihren Angaben 2020 rund 75 Millionen Tonnen Agrargüter im Ausland und damit ähnlich viel wie die Ukraine. Allerdings nahm Kanada damit 55 Milliarden US$ ein, während die Ukraine nur auf 22 Milliarden US$ kam.
Die blockierten Häfen der Ukraine könnten den Trend zu hochwertigeren Exporten beschleunigen. Da die Exportkapazitäten auf der Schiene begrenzt sind, lohnt es sich, teurere Waren auf die Reise ins Ausland zu schicken.