Special | Ungarn | 20 Jahre EU-Osterweiterung
Ungarn: Ein Erfolgsmodell stößt an Grenzen
Lange konnte die ungarische Regierung internationale Industrieansiedlungen großzügig fördern. Mit dem Ausbleiben hoher Summen an EU-Zuwendungen könnte das bald schwieriger werden.
29.04.2024
Von Kirsten Grieß | Budapest
Ökonomisch gesehen ist die EU-Mitgliedschaft für Ungarn zweifellos ein Gewinn. Seit seinem Beitritt ist das Land einer der größten Nettoempfänger europäischer Fördergelder. Die Milliarden aus Brüssel haben zwei Jahrzehnte lang dabei geholfen, die ungarische Wirtschaft zu modernisieren und die Infrastruktur auf europäischen Standard zu bringen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich in dem Zeitraum nahezu verdreifacht und betrug im Jahr 2023 laut Eurostat 20.490 Euro.
Seine wirtschaftliche Entwicklung verdankt das Land vor allem aber auch ausländischen Großinvestitionen, die nicht zuletzt mit EU-Mitteln großzügig gefördert wurden. Für 2022 registrierte Ungarn laut UNCTAD einen Rekordbestand ausländischer Direktinvestitionen von umgerechnet knapp 100 Milliarden Euro. Deutschland ist der mit Abstand größte Investor im gewerblichen Bereich. Nach wie vor habe Ungarn deutschen Firmen ein gutes Gesamtpaket an Standortvorteilen zu bieten, sagt etwa Dale A. Martin, der frühere Chef der ungarischen Siemens-Tochter, im Interview mit Germany Trade & Invest.
Politisch trübt der wachsende Dissens zwischen Ungarns Regierung und der Europäischen Kommission die Bilanz. Unter Ministerpräsident Viktor Orbán hat das Land einen zunehmend EU-skeptischen Kurs eingeschlagen. Stein des Anstoßes zwischen Brüssel und Budapest sind fortwährende Verletzungen europäischer Grundrechte und Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien durch Ungarn. Der konziliante Umgang der ungarischen Regierung mit Russland und die politische Nähe zu China sorgen für zusätzliche Irritationen.
Wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit blockierte die Europäische Kommission Ende 2022 Ungarns Auszahlungen aus dem laufenden EU-Haushalt und dem Wiederaufbaufonds. Zwar wurde Ende 2023 eine erste Tranche von 10 Milliarden Euro freigegeben, doch weitere 20 Milliarden an Fördergeldern sind noch eingefroren. Bleiben diese Mittel aus, schränkt das den Spielraum der Regierung für die Investitionsförderung spürbar ein.
Mehr Batterieproduktion, höhere Umweltbelastung
Ansiedlungen im Automobilbau standen lange im Fokus der ungarischen Industriepolitik. Heute ist Ungarn für die Kfz-Branche einer der wichtigsten Produktionsstandorte in Mittelosteuropa. Mehrere deutsche Marken und ihre Zulieferer fertigen im Land.
Ungarns Regierung setzte früh auf Elektromobilität. Angeworben wurden vor allem Batterieproduzenten aus Asien, die in Ungarn ein positives Investitionsklima vorgefunden haben und vom Staat großzügig finanziell gefördert wurden. Der rasante Ausbau der Batteriefertigung stößt allerdings an Grenzen: In der Produktion werden die Arbeitskräfte knapp. Hinzu kommt die Umweltbelastung: Die Batterieherstellung verbraucht enorme Mengen an Energie und Wasser und kann zu erheblicher Wasserverschmutzung führen.
belegt Ungarn 2024 unter den weltweit größten Batterieherstellern.
Während die Regierung die Wasserversorgung der Batteriewerke mit hohen Summen ausbaut, leiden Privathaushalte unter schlechter Wasserqualität und maroden Leitungen. Fachleute warnen, dass Ungarns Versorgungsnetz an Kapazitätsgrenzen stößt und Investitionen im Umfang mehrerer Milliarden Euro nötig seien. Für die Verarbeitung anfallender Batterieabfälle und das Batterierecycling werden ebenfalls Lösungen gesucht. Seit 2023 schreibt die EU eine Rücknahmepflicht und Mindestrecyclinganforderungen für Batteriehersteller auf dem europäischen Markt vor. Erste Batterierecyclingwerke sind bereits in Planung.
Verteidigungsindustrie fährt die lokale Produktion hoch
Auch an anderer Stelle treibt Ungarn die Entwicklung strategischer Branchen voran. Mit der Rüstungsindustrie will die Regierung an die Erfolge im Automobilsektor anknüpfen. Erste Ansiedlungsprojekte etwa durch den Rüstungskonzern Rheinmetall sind bereits verwirklicht. Experten schätzen, dass der Anteil der Rüstungsproduktion am ungarischen Bruttoinlandsprodukt bald auf 1 Prozent anwachsen könnte.
Fördergelder für Elektroautos und das Eisenbahnnetz
Aus dem EU-Wiederaufbaufonds könnte Ungarn rund 10 Milliarden Euro erhalten. Knapp 70 Prozent davon will die ungarische Regierung für die grüne Transformation bereitstellen. Mit Blick auf die Elektrifizierung des Straßenverkehrs ist Ungarn eher Nachzügler. Der Anteil reiner Elektrofahrzeuge an den Neuzulassungen lag 2023 deutlich unter EU-Durchschnitt. Aktuell wird der Kauf gewerblich genutzter Elektroautos staatlich bezuschusst, was die Neuanmeldungen in den ersten Monaten 2024 etwas angekurbelt hat.
Zu den verkehrspolitischen Prioritäten der Regierung zählt der Ausbau des Schienenverkehrs. Nachdem 2023 aufgrund fehlender EU-Mittel Baumaßnahmen größtenteils gestoppt wurden, hat der Staat im Januar 2024 eine ganze Reihe von Investitionsprojekten angekündigt. So sollen landesweit nicht nur Bahnstrecken im Güter- und Personenfernverkehr modernisiert werden, sondern auch das S-Bahnnetz von Budapest großflächig ausgebaut werden. Für die ersten Vorhaben wurden rund 250 Millionen Euro veranschlagt. Langfristig sind Investitionen von bis zu 10 Milliarden Euro geplant.
Marodes Stromnetz als Hemmschuh
Beim Umbau der Energieversorgung auf erneuerbare Quellen setzt Ungarn auf Fotovoltaik. Doch der Ausbau der Solaranlagen wird durch das veraltete Stromnetz gebremst. Ende Februar 2024 hatten sämtliche in Ungarn installierten Solarmodule eine Gesamtleistung von 6.000 Megawatt. Diese können aktuell nur zu maximal 20 Prozent ausgelastet werden. Der Netzausbau ist zwingend notwendig, kommt aber nicht schnell genug voran. Deswegen will die Regierung die Energiespeicherkapazität bis 2030 von derzeit 30 Megawatt auf 800 bis 1.000 Megawatt erweitern.
Ungarn braucht die EU
des ungarischen Bruttonationaleinkommens machten die jährlichen EU-Nettotransfers 2014 bis 2022 durchschnittlich aus.
Ob Ungarn seine Industriepolitik fortführen kann, der Umbau der Energiewirtschaft und die Modernisierung des Verkehrssystems gelingen, steht und fällt mit der Freigabe der EU-Fördermittel. Bleiben die europäischen Gelder aus, leidet das wirtschaftliche Entwicklungspotenzial des Landes. Das weiß auch die Regierung Viktor Orbáns. Erste Signale aus Budapest lassen für 2024 hoffen: Mitte Februar veröffentlichte die Regierung einen Gesetzesentwurf zur Neuregelung des öffentlichen Beschaffungswesens, was eine zentrale Forderung Brüssels ist. Auch die ungarische EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2024 könnte eine Chance zur erneuten Annäherung bieten.