Jeder Chilene und jede Chilenin ist krankenversichert und hat Anspruch auf eine Grundversorgung. Allerdings krankt das System selbst an vielen Stellen und ist reformbedürftig.
Die medizinische Versorgung in Chile gilt nicht nur im lateinamerikanischen Maßstab als gut. Tatsächlich gehört der Andenstaat zu den wenigen Ländern, in denen beispielsweise die Lebenserwartung während der Coronapandemie nur geringfügig zurückging (um ein Jahr). Speziell in Sachen Vorsorge, etwa bei Schwangerschaften, Impfungen etc., ist Chile gut aufgestellt. Auch die öffentliche Gesundheitsversorgung bei akuten Erkrankungen wie einer Blinddarmoperation ist nicht schlecht.
Ganz anders sieht es bei planbaren Terminen und Operationen aus, sofern der Patient oder die Patientin über die öffentliche Gesundheitskasse Fondo Nacional de Salud (Fonasa) versichert ist. Laut Gesundheitsministerium warteten im September 2024 rund 2,1 Millionen Menschen auf einen Facharzt- und 500.000 auf einen Zahnarzttermin sowie 380.000 auf eine Operation. Auf einen Facharzttermin warten 50 Prozent der Patienten 258 Tage, auf eine planbare Operation 301 Tage (Median). Es kann jedoch auch deutlich länger dauern, und einige Patienten haben ihren Behandlungstermin nicht mehr erlebt.
Wahlfreiheit zwischen öffentlicher und privater Versorgung
Laut Verfassung können die Menschen in Chile grundsätzlich zwischen der öffentlichen Fonasa oder einer privaten Kasse (Institución de Salud Previsional; Isapre) wählen. Darüber hinaus gibt es Zusatzversicherungen oder die Möglichkeit, Differenzbeträge zu dem, was über die von der Kasse (Fonasa oder Isapre) abgedeckten Behandlungen hinausgeht, aus eigener Tasche zu bezahlen.
Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet rund 985 US-Dollar (US$) im Jahr 2023 beziehungsweise einem Mindestlohn von circa 500 US$ (seit Juli 2024) sind die Spielräume für eine Zusatzversicherung für weite Teile der Bevölkerung allerdings gering. Rund 70 Prozent müssen mit weniger als dem Durchschnittseinkommen auskommen.
Gegenüberstellung öffentliche und private Krankenversicherung in ChileAspekt | Öffentliche Krankenversicherung (Fonasa) | Private Krankenversicherungen (Isapres) |
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Leistung | Festgelegt in der "GES"-Liste (Garantía Explicitas en Salud). Diese enthält unter anderem viele chronische Erkrankungen wie Niereninsuffizienz oder Diabetes, Herz- und Kreislauferkrankungen, zahlreiche Formen von Krebsbehandlungen etc. Zahnbehandlungen zum Beispiel werden aber nur in Ausnahmen abgedeckt. | Der Leistungskatalog der Isapres hängt vom jeweiligen Tarif ab. Die "GES"-Liste wird aber in jedem Fall abgedeckt. |
Finanzierung | Arbeitgeber müssen 7 Prozent des Bruttoeinkommens der Arbeitnehmer an die Fonasa abführen. Dieser Teil machte 2023 rund 20 Prozent der Gesamtausgaben aus. Den Fehlbetrag übernimmt der Staat; 2024 waren hierfür im Haushaltsbudget rund 1,5 Milliarden US$ veranschlagt. | Zu 100 Prozent durch private Beiträge |
Leistungsempfänger | Etwas über 80 Prozent der Bevölkerung respektive 16,2 Millionen Personen (2023): hauptsächlich abhängig Beschäftigte, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, Studenten unter 24 Jahre; Pensions- und Rentenbezieher. Die Fonasa greift automatisch, wenn kein Isapre-Vertrag vorliegt. | Die übrigen rund 20 Prozent der Bevölkerung (im August 2024 knapp 2,7 Millionen Menschen, davon 1,6 Millionen Beitragszahler). |
Branchenstruktur | Öffentlich im Eigentum des Staates | Die meisten Isapres sind lokale Privatfirmen, es gibt aber auch eine kleine Anzahl internationaler Versicherer am (Zusatzversicherungs-)Markt wie Divina Pastora Seguros und MAPFRE aus Spanien oder Zurich aus der Schweiz. Die wichtigsten lokalen Isapres sind Banmédica (rund 613.000 Versicherte), Colmena (611.000) und Consalud (469.000; Stand September 2024, Quelle: Superintendencia de Salud) |
Quelle: Recherchen von Germany Trade & Invest
Defizite im chilenischen Gesundheitssystem
Die wichtigsten Defizite des chilenischen Gesundheitssystems sind:
1. Hochverschuldete Krankenhäuser: Viele der öffentlichen Krankenhäuser schieben besonders seit der Coronapandemie millionenschwere Schuldenberge vor sich her. Nach einem Bericht des Gesundheitsministeriums hatten sich bis Ende Juni 2024 rund 120 Millionen US$ angehäuft, fast 50 Prozent mehr als Ende des ersten Halbjahrs 2023.
Die Gründe sind vielschichtig: Unbezahlte Rechnungen von Seiten der privaten Krankenversicherer gehören genauso dazu wie hausinterne Ineffizienz.
Auch den privaten Gesundheitsdienstleistern fehlt Geld – nach Lancet Informationen schuldeten ihnen Fonasa und Isapres 2023 zusammen rund eine Milliarde US$. Der Zusammenbruch der Isapres könnte einen Domino-Effekt bei den Privatkliniken auslösen.
Des Weiteren gehen rund 65 Prozent des Fonasa-Budgets nicht in die eigentliche Krankenversorgung, sondern werden für Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall ausgegeben. Dem Missbrauch sind Tür und Tor geöffnet. Sofern eine Krankschreibung vorliegt, werden diese Lohnfortzahlungen zu 100 Prozent und ohne zeitliches Limit entrichtet. Die zuständigen Behörden sind mit der Kontrolle personell überfordert. „Falsche Krankschreibungen kosten das Gesundheitssystem Millionen-Beträge“, weiß Enrique Paris Mancilla, Präsident des Instituto de Políticas Públicas an der Universidad San Sebastián und ehemaliger Gesundheitsminister (2020-2022).
2. Ineffizienz/fehlende Auslastung/Fachkräftemangel: Teure Operationssäle oder Geräte werden mitunter nur wenige Stunden am Tag genutzt, zum Beispiel weil das Krankenhaus nicht über ausreichend Fachpersonal verfügt, die angeschafften Geräte zu bedienen. Dies gilt speziell außerhalb des Ballungsraums Santiago. „Es wird viel in hochwertige und moderne Hardware investiert, aber zu wenige wissen, wie sie funktioniert, um ihr Potenzial auszuschöpfen“, so José Miguel Morán, Inhaber der Privatklinik Chicureo. "Es besteht die Notwendigkeit, Anschaffungen mit entsprechenden Schulungen zu koppeln, um die effiziente Nutzung der Ressourcen zu gewährleisten."
Darüber hinaus arbeiten die meisten im öffentlichen System angestellten Ärzte teilweise im Privatsektor. Dessen ungeachtet sind die vorhandenen Ärzte und Pflegekräfte auf allen Ebenen in der Regel sehr gut ausgebildet und mit den neuesten Technologien vertraut. Letzteres ist einer der Gründe, warum es die meisten in den Großraum Santiago zieht: Abgesehen von höheren Verdienstaussichten sind in der Metropolregion die Fortbildungsmöglichkeiten deutlich besser.
3. Investitionsdefizit: Die Comisión Nacional de Evaluación y Productividad (CNEP) beziffert das Investitionsdefizit in die landesweite Grundversorgung (Atención Primaría de Salud) auf rund eine Milliarde US$. Ein Grund sind fehlende Mittel von Seiten der zuständigen, meist finanzklammen Gemeinden. Diese erhalten zwar aus Santiago einen Pauschalbetrag pro eingeschriebenem Patienten, aber dieser ist oft nicht ausreichend. Überdies sehen sich viele Krankenhäuser in ihrer Not gezwungen, mit für Investitionen vorgesehene Mittel laufende Kosten zu decken.
Die CNEP schlägt den Ausbau von Public-Private-Partnership Modellen vor. Schon jetzt wächst die Zahl von durch Konzessionäre bewirtschaftete Krankenhäuser. Dabei setzen sich nach jahrelangem Lernprozess zunehmend chinesische Firmen gegen die bislang dominierenden Spanier wie Sacyr durch.
Außerdem plädiert die CNEP in ihren Vorschlägen an die Regierung für einen leichteren Datenaustausch zwischen den verschiedenen Gesundheitseinrichtungen (etwa um Doppeluntersuchungen zu vermeiden) – und so die Effektivität zu steigern und Kosten zu minimieren.
4. Finanzkrise der privaten Krankenversicherer: Ein seit 2010 ungelöster Rechtsstreit könnte zum Ruin der privaten Krankenversicherer, den Isapres, führen – schon heute gibt es einige, die von den Gesundheitseinrichtungen nicht mehr akzeptiert werden, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen. Der Zusammenbruch des privaten Gesundheitssektors hätte verheerende Auswirkungen auf das öffentliche Gesundheitssystem. Denn die Aufnahme der rund 2,7 Millionen Isapre-Versicherten in das öffentliche Gesundheitswesen würde dessen Kapazitäten sprengen.
Der Krimi um die wirtschaftliche Schieflage der Ispares
Im Jahr 2010 entschied das chilenische Verfassungsgericht, die bis dato gängige Praxis, die Versicherungsbeiträge auf Basis von "Faktortabellen" zu berechnen, sei verfassungswidrig. Diese orientierten sich nach Faktoren wie Alter und Geschlecht. Benachteiligt waren vor allem ältere Menschen, Frauen im gebärfähigen Alter und Kinder unter zwei Jahren. Da das Urteil nicht von gesetzlichen Vorgaben begleitet war, behielten die Isapres ihre Beitragspolitik dennoch bei - und wurden in der Folge zunehmend und fast immer erfolgreich verklagt.
Angesichts der Klageflut bestimmte der Oberste Gerichtshof am 30. November 2022, die Isapres hätten sich an Einheitstabellen zu halten, um Diskriminierungen zu minimieren. Überdies seien alle seit April 2020 zu viel gezahlten Beiträge zurückzuerstatten.
Getrieben durch eine Fristsetzung des Obersten Gerichtshofs verabschiedete der chilenische Kongress im Mai 2024 das Gesetz zur Rettung der Isapres und verhinderte so den sofortigen Zusammenbruch der privaten Versicherer, abgewendet ist er nicht. Zusätzlich zu den im Verbund mit den in Folge des Gerichtsverfahrens eingefrorenen Beiträgen setzten den einst gewinnträchtigen Isapres die Anstieg der Gesundheitskosten und der Krankenstände seit der Covid-19-Pandemie zu.
Der Kompromiss war für die linksgerichtete Regierung schwer zu schlucken. Deren Ziel war ein System, in das ausnahmslos alle einzahlen. Für bessere Leistungen gäbe es die Isapres lediglich als Zusatzversicherung. Die Konservativen hielten an der Wahlfreiheit in der Gesundheitsversorgung fest.
Jetzt müssen die Isapres Pläne erstellen, wie sie die überhöhten Beiträge zurückgeben. Die staatliche Aufsichtsbehörde Superintendencia de Salud geht von einer Rückzahlungssumme von insgesamt 1,2 Milliarden US$ aus.
Angesichts der finanziellen Unsicherheit wechseln immer mehr Personen von den Isapres in die Fonasa, 2024 laut Superintendencia de Salud mehr als 130.000 Kunden. Ihre Mitgliedszahlen steigern konnten lediglich Nueva Masvida sowie die von der Gruppe Clinica Alemana kontrollierte Esencial, welche erst seit 2022 am Markt ist.
Von Stefanie Schmitt
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Santiago de Chile