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Baumaterial ist in der Ukraine knapp
In der Ukraine ist die Bautätigkeit seit dem Kriegsausbruch kräftig eingebrochen. Langfristig hat das Land aber immensen Bedarf an Baumaterial und Baumaschinen.
17.10.2022
Von Gerit Schulze | Berlin
Der russische Angriffskrieg stellt die ukrainische Bauwirtschaft vor große Herausforderungen. Wichtige Produktionskapazitäten für Baustoffe und Baumaterialien sind beschädigt oder okkupiert. Da sechs Millionen Menschen vor den Angriffen ins Ausland geflohen sind und Männer zum Militärdienst eingezogen werden, fehlen auf den Baustellen Arbeitskräfte. Gleichzeitig entsteht durch die massiven Zerstörungen an Gebäuden und Infrastruktur ein enormer Bedarf an Bauleistungen.
Laut Kyiv School of Economics (KSE) wurden bis Anfang September 2022 über 130.000 Wohngebäude, 420 Fabriken und Bürogebäude sowie Tausende Krankenhäuser, Schulen und Sporteinrichtungen durch russischen Beschuss zerstört oder beschädigt.
Auch deutsche Produktionsbetriebe beschädigt
Von den Kriegshandlungen sind auch deutsche Produktionsbetriebe betroffen. Henkel Bautechnik schloss nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 seine vier ukrainischen Werke. Zwei davon befanden sich später in besetzten Gebieten. Die Fabriken in der Westukraine und im Kiewer Gebiet laufen inzwischen wieder. Auch der Baustoffhersteller Knauf hatte sein Werk in Soledar (Donezker Gebiet) nach Kriegsausbruch geschlossen. Später wurde die Fabrik bei Luftangriffen beschädigt. Als Ausgleich für die verlorenen Produktionskapazitäten reaktivierte Knauf eine Gipskartonfabrik bei Kiew.
Ukrainische Politiker betonen, dass sie mit dem Wiederaufbau nicht bis nach dem Krieg warten wollen. Die provisorische Instandsetzung der von Artillerie getroffenen Kraftwerke, Brücken und Straßen funktioniert gut. Große Nachfrage besteht bei Fenstern, Türen und Dachmaterial. Im Wohnungsbau setzen die Developer Bauarbeiten an Gebäuden fort, die vor Kriegsbeginn mindestens zur Hälfte fertiggestellt waren.
Bedarf an Behelfsbauten und Modulbauweise
Für die sieben Millionen Binnenflüchtlinge müssen zeitnah winterfeste Behelfsbehausungen errichtet werden. Entsprechende Fertighaussiedlungen entstehen in 16 Regionen des Landes. Inklusive Innenausbau und Möblierung sollen die Baukosten 800 US-Dollar (US$) je Quadratmeter nicht überschreiten. Deutschland, Tschechien und Japan haben ihre Unterstützung zugesagt. Eines der ersten Projekte mit 150 Häusern wird in Schytomyr realisiert.
Neben Gebäuden in Modulbauweise sind auch Behelfsbrücken gefragt. Das französische Unternehmen Matière zum Beispiel hat die Lieferung von 36 Leichtbaubrücken mit einer Länge von bis zu 46 Metern vereinbart. Ähnliche Pontonbrücken hat Tschechien bereits geliefert.
Für Nachfrage nach Bauleistungen sorgt das Regierungsprogramm zur Umsiedlung von Firmen aus den Frontgebieten in den Westen des Landes. Bis Ende September 2022 hatten über 550 Unternehmen ihre Produktionsstätten verlagert.
Mehr Fokus auf Energieeffizienz im Gebäudebau
Für den Wiederaufbau des Landes stellte die Regierung Anfang Juli 2022 im schweizerischen Lugano einen "National Recovery Plan" vor. Um Wohnraum und Infrastruktur wiederherzustellen und zu modernisieren, sollen 150 Milliarden bis 200 Milliarden US$ investiert werden. Der Schwerpunkt liegt auf der energieeffizienten Sanierung des Gebäudebestands.
Die Pläne sehen Einsparungen von 50 Prozent Wärmeenergie im Vergleich zu bisherigen Bauten vor. Allein die Modernisierung der zentralen Heizungssysteme, inklusive des Einsatzes von Biomasse und Wärmepumpen, soll 11 Milliarden US$ kosten. Im Rahmen dieses Programms sind Vorzeigeprojekte für Nullenergiehäuser vorgesehen. Pilotregionen sind die zuvor von russischen Truppen besetzen Orte Butscha, Irpin und Tschernihiw.
Beim Ausbau der Infrastruktur ist unter anderem geplant:
- Sanierung und Neubau von 27.200 Kilometern Straßen
- Bau einer Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecke von Kiew nach Warschau
- Bau von 3.000 Brücken
- Modernisierung von zwölf bestehenden und Bau von drei neuen Grenzübergängen in die EU
- Sanierung oder Neubau von fünf bis sieben Flughäfen
- Modernisierung der drei Donauhäfen
Einige dieser Vorhaben wie der Ausbau der Donauhäfen befinden sich bereits in der Umsetzung. Ebenso hat der Anschluss an das europäische Schienennetz begonnen, zum Beispiel die Trasse von Rachow in Transkarpatien nach Rumänien. Bei grenzüberschreitenden Neubaustrecken setzt die Ukraine zukünftig auf die europäische Normalspur.
Außerdem entstehen im Westen des Landes große Lager- und Umschlagkomplexe für Getreide. Im Gewerbebau will die Ukraine neue Produktionsstätten in modernen Industrieparks ansiedeln, deren Zahl bis 2032 von 25 auf 60 steigen soll.
Planungen für Neubauten mit mindestens vier Stockwerken müssen künftig auch den Einbau von Luftschutzräumen berücksichtigen. Das sieht das Gesetz Nr. 7398 vor, das am 29. Juli 2022 vom ukrainischen Parlament verabschiedet wurde. Ein weiterer Gesetzentwurf (Nr. 6485) wurde am 9. Juli 2022 vom Parlament angenommen. Er verschärft die Regeln zur Wärmedämmung von Gebäuden bei Neu- und Umbauten. Teildämmungen sollen nicht mehr als Wärmeisolierung anerkannt werden. Gleichzeitig werden die Genehmigungsverfahren für energieeffiziente Maßnahmen vereinfacht. |
Engpässe bei wichtigen Baumaterialien
Eine Herausforderung bleibt die Versorgung mit Baumaterialien. Durch die Zerstörung wichtiger Stahlwerke in Mariupol fehlt Baustahl. Auch Mineralwolle oder Fensterprofile sind nach Aussagen von Marktteilnehmern knapp.
Einer der wichtigsten Mineralwollehersteller, Izovat im Gebiet Schytomyr, war im März 2022 heftigen Angriffen ausgesetzt und musste seine Produktion drosseln. Zwar werden die Anlagen schrittweise wieder hochgefahren. Dennoch rechnen Experten im Wohnungsbau mit einem Importanteil von bis zu 80 Prozent bei solchen Produkten.
Vor dem Krieg kaufte die Ukraine Dämmmaterial, Glas und Isolierfenster häufig in Belarus und Russland. Solche Importgeschäfte sind inzwischen verboten, sodass andere Lieferländer gesucht werden.
Inlandsproduktion muss gestärkt werden
Mittelfristig soll die Produktion wichtiger Bauelemente lokalisiert werden. Dazu gehören die Herstellung von Fenstern (bis zu 6 Millionen Einheiten pro Jahr), Glas (300.000 Jahrestonnen) und Materialien zur Wärmeisolierung (13 Millionen Kubikmeter pro Jahr). Einige Unternehmen wagen bereits während des Krieges Investitionen. Der Kiewer Projektentwickler City One Development baut eine Glasfabrik im Umland der Hauptstadt, die 100 Millionen Euro kosten soll. Die irische Kingspan plant die Schaffung eines Building Technology Campus in der Westukraine. Dort sollen neue Technologien für Wärmedämmung und Heiztechnik entwickelt und produziert werden.
Projektbezeichnung / Region | Investitionssumme in Mio. Euro | Projektstand | Projektträger / Investor |
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