Branchen | Brasilien | Automobilindustrie
Brasiliens Autobauer richten sich neu aus
Im Drahtseilakt zwischen Überproduktion und Markterholung beschleunigen die Hersteller ihre Elektrifizierungsstrategien. Denn die Konkurrenz aus China ist da.
06.10.2023
Von Gloria Rose | São Paulo
Konjunktur: Zinswende eröffnet Aussicht auf Erholung des Kfz-Markts
Im August 2023 leitete die brasilianische Zentralbank die Zinswende ein. Mit 13,25 Prozent befindet sich der Leitzins aber weiter auf einem hohen Niveau. Doch dürfte sich der Stau bei der Nachfrage nach Kfz mit den sinkenden Kreditkosten künftig entladen. Erste Zulieferer sehen die Entwicklung voraus und bereiten sich auf eine eventuelle Produktionssteigerung vor, bemerken Branchenbeobachter.
Wie groß der Nachfragestau ist, verdeutlicht ein Förderprogramm, das Anfang Juni 2023 anlief. Um den Absatz und somit die inländische Kfz-Industrie zu stimulieren, gewährte die Regierung Kaufprämien für Neuwagen mit einem Verkaufspreis von unter 24.000 US-Dollar. Zu den begünstigten Herstellern gehörten Renault, Volkswagen, Toyota, Hyundai, Nissan, Honda, GM, Fiat und Peugeot. Der Pkw-Absatz legte im Juni um 11,4 Prozent zu. Doch bereits Anfang Juli waren die vorgesehenen Finanzmittel aufgebraucht. Kaufprämien für Lkw und Busse sind noch verfügbar, da die Förderung hier weniger ausschlaggebend ist.
Dennoch fuhren Volkswagen und GM die Produktion Anfang Juli erneut herunter. Bereits in den Monaten März und April 2023 hatten beide Hersteller ebenso wie Hyundai und Stellantis den Betrieb vorübergehend ausgesetzt, um eine Überproduktion zu vermeiden. Im 1. Halbjahr 2023 legte die Kfz-Produktion nur um 0,3 Prozent zu. Damit zeichnet sich für das Gesamtjahr eine Stagnation ab.
Während der Absatz im Luxussegment und der Mittelklasse gut läuft, staut sich die Nachfrage besonders im Kleinwagensegment. Denn Neuwagen sind für viele Brasilianer unerschwinglich. Im Verlauf der Coronakrise trieben die Produktionskosten die Fahrzeugpreise in die Höhe. Zudem erschweren die hohen Zinsen den Zugang zu Krediten. Dagegen boomt der Gebrauchtwagenmarkt. Allerdings erreichte der Verkauf mit rund 5 Millionen Kfz im 1. Halbjahr 2023 nicht die 5,4-Millionen-Marke aus dem Rekordjahr 2021.
Nachfragetrends: Vernetzt und zunehmend elektrifiziert
Im 1. Halbjahr 2023 wurden in Brasilien fast 60 Prozent mehr E-Autos zugelassen als im Vorjahreszeitraum. Bei einem Großteil handelte es sich um Hybridmodelle mit Bioethanolmotor (HEV flex). Der mit Abstand bedeutendste Hersteller ist Toyota. Besonders intensiv legt jedoch derzeit der Verkauf von Pkw mit Hybridantrieb zu, deren Akku sowohl über den Verbrennungsmotor als auch mit einem Stecker am Stromnetz geladen werden kann, sogenannte PHEV. In dieser Kategorie bieten CAOA Chery, Volvo, GWM und BYD die beliebtesten Modelle am brasilianischen Markt an.
Der Anteil reiner Elektroautos ist noch sehr gering. Aufgrund der Bedeutung der Zucker-Ethanol-Industrie wird Brasilien bei der Energiewende auch zukünftig auf Bioethanol setzen. Das dürfte die Marktdurchdringung reiner E-Autos auch in Zukunft abbremsen.
Antrieb | 1. Hj. 2023 | Veränderung *) | Anteil an den gesamten Zulassungen von Elektroautos |
---|---|---|---|
Hybrid Electric Vehicle (HEV) | 16.987 | 28 | 52,7 |
davon mit Bioethanolmotor (HEV flex) | 12.317 | k.A. | 38,2 |
davon mit Benzinmotor (HEV a gasolina) | 4.670 | k.A. | 14,5 |
Plug-in Electric Vehicles (PEV) | 15.252 | 113 | 47,3 |
davon Plug-in Hybrid Electric Vehicle (PHEV) | 11.475 | 206 | 35,6 |
davon Battery Electric Vehicle (BEV) | 3.777 | 11 | 11,7 |
Insgesamt | 32.234 | 58 | 100,0 |
Ein weiterer wichtiger Trend ist die zunehmende digitale Vernetzung von Pkw. Marktführer Chevrolet will die Flotte, die über das System Onstar vernetzt ist, im Jahr 2023 auf 500.000 Fahrzeuge verdoppeln. Ein wichtiges Kaufmotiv ist dabei der Sicherheitsaspekt bei Diebstahl und Raub.
Aufgrund der eingeschränkten Kaufkraft und ungünstiger Kreditoptionen finden alternative Geschäftsmodelle wie Auto-Abos und Kfz-Verleih großen Anklang. Dagegen kann die brasilianische Automobilindustrie beim Megatrend autonomes Fahren kaum mithalten. Bislang sind lediglich Level-2-fähige Autos am Markt verfügbar.
Branchenstruktur: Chinesische Hersteller preschen vor
Mit dem Aufkommen der Elektrifizierung richtet sich die Branche weltweit neu aus. In Brasilien zogen sich einige traditionelle Hersteller aus der Produktion zurück. An deren Stelle rücken nun zunehmend chinesische Autobauer. GWM, BYD und Higer Bus setzen dabei nicht nur auf die reine Montage importierter Kits, sondern planen auch lokale Zulieferer einzubinden und somit einen Mindestanteil lokaler Wertschöpfung in die Lieferketten zu integrieren.
Als Antwort auf die Pläne der chinesischen Neueinsteiger kündigten Brasiliens Marktführer im 1. Halbjahr 2023 gewichtige Investitionen in Elektromobilität an. Volkswagen will seinen Absatz in Brasilien bis 2027 um 40 Prozent steigern und dafür bis 2025 insgesamt 15 neue hybride und vollelektrische Kfz auf den Markt bringen.
Noch ehrgeiziger äußerte sich Antonio Filosa, der das Südamerikageschäft von Stellantis leitet. Die Gruppe, die 24 Prozent des südamerikanischen Kfz-Marktes einnimmt, werde im kommenden Zyklus mehr als alle Konkurrenten zusammen investieren. Auch für die Elektrifizierungsstrategie von GM ist Brasilien von großer Bedeutung. Der US-Konzern plant Investitionen vorzuziehen, setzt dabei jedoch nicht auf Hybridfahrzeuge wie Volkswagen und Stellantis.
Rota 2030 geht in die zweite Phase
Über das Programm Rota 2030 fördert Brasilien die inländische Automobilindustrie und den Kfz-Markt. Die Vorgaben für Steuererleichterungen in der zweiten Phase des Programms bis 2028 sollen bis Ende August veröffentlicht werden und dürften die nationale Produktion von E-Autos begünstigen. Neben der Emissionsminderung dürfte auch die Wiederverwertung von Materialien gefördert werden.
Steuerreform kann regionale Förderung aushebeln
Mit der anstehenden Steuerreform entlastet Brasilien die verarbeitende Industrie. Dies wirkt sich positiv auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts aus. Der Verband der Kfz-Hersteller Anfavea steht dem Vorhaben insgesamt positiv gegenüber. Allerdings stellt die Reform Steuererleichterungen für Kfz-Werke im Nordosten und Zentralwesten des Landes in Frage. Das Thema spaltet die Kfz-Industrie. Stellantis und BYD setzen sich für staatliche Förderung im Nordosten ein. CAOA Chery und die Gruppe HPE Automotores do Brasil, die Mitsubishi Motors und Suzuki vertritt, sind für die Beibehaltung von Steuererleichterungen im Staat Goiás. Dagegen betreiben GM, Volkswagen und Toyota Lobby gegen die regionalen Begünstigungen.