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Argentiniens Wirtschaft vor radikalen Veränderungen
Der neue argentinische Präsident Javier Milei will das Land politisch und wirtschaftlich umkrempeln. Angekündigt hat er so wenig Staat und so viel Privatwirtschaft wie möglich.
19.01.2024
Von Stefanie Schmitt | Santiago de Chile
Die Argentinier sind die jahrelange Wirtschaftsmisere mit sinkenden Pro-Kopf-Einkommen, einer galoppierenden Inflation und einer überbordenden Korruption auf allen Ebenen der Institutionen ("institutionalisierte Korruption") leid. Deshalb haben sie im November 2023 mit Javier Milei einen Präsidenten gewählt, der "mit der Kettensäge" mit all dem Schluss machen will.
Zu Mileis Radikalkur, mit der er das Land wieder nach vorne bringen will, gehören die Abschaffung des argentinischen Peso, die Einführung des US-Dollar (US$) als Landeswährung und eine schnelle Öffnung der Wirtschaft nach außen. Auch die Privatisierung von Staatsunternehmen wie dem Ölkonzern YPF oder der Fluggesellschaft Aérolinea Argentina steht auf dem Programm. Hinzu kommt eine Zerschlagung des aufgeblähten Staatsapparates etwa durch die Abschaffung von aus seiner Sicht unnötigen Behörden wie der Zentralbank sowie die Beschneidung zahlreicher Subventionen und Sozialausgaben.
Die argentinische Wirtschaft und Gesellschaft wie auch die Welt beobachten mit Spannung, welche der Maßnahmen der Präsident angesichts seiner dünnen Basis im Abgeordnetenhaus und dem Senat tatsächlich umsetzen kann. Denn eines ist klar: Der Handlungsbedarf ist gigantisch. Zuvorderst werden sich Wirtschaft und Gesellschaft auf eine gravierende Währungsabwertung einstellen müssen. Auch wenn diese noch nicht zwangsläufig zum Ende des Peso führen muss, ist insgesamt mit vielen Überraschungen zu rechnen. Doch schon in der Vergangenheit war in Argentinien nur erfolgreich, wer "krisengeprüft flexibel“ war.
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Wirtschaftsstützen Landwirtschaft und Bergbau
Im Jahr 2022 wurden 10,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) Argentiniens im Primärsektor erwirtschaftet, rund 21,6 Prozent kamen aus der Industrie und 51,3 Prozent aus dem Dienstleistungsbereich. Eine besondere Rolle spielt die Landwirtschaft. Sie ist hochproduktiv und zählt zu den wenigen international wettbewerbsfähigen Wirtschaftszweigen des Landes. Zwar trägt der Sektor offiziell nur 8,4 Prozent zum BIP bei. Doch sollen schätzungsweise ein Drittel aller Arbeitsplätze direkt oder indirekt von ihm abhängen, einschließlich aller vor- und nachgeschalteter Branchen wie Agrarchemie, Maschinenbau, Transport, Handel etc. Darüber hinaus gehört die Landwirtschaft zu den wichtigsten Devisenbringern und Steuerzahlern des Landes.
Argentinien verkaufte 2022 Güter im Wert von rund 90 Milliarden US$ ins Ausland, davon entfielen laut Statistikamt INDEC rund 61 Prozent auf landwirtschaftliche Produkte. Aufgrund hoher Abgaben, wie Exportzöllen auf Soja von 30 Prozent, bleiben die Erzeuger jedoch hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Große Vorkommen an Lithium, Öl und Gas
Letzteres gilt auch für die Öl- und Gasbranche, die viele Jahre auf die Fertigstellung der Nestor-Kirchner-Pipeline von der Lagerstätte Vaca Muerta nach Salliqueló (Provinz Buenos Aires) warten musste. Immerhin konnte diese 2023 in Betrieb genommen werden. Zusätzliche Einnahmen werden sprudeln, wenn die geplante Pipeline nach Brasilien ans Netz geht. Das kann allerdings noch weitere Jahre dauern. Jedoch könnte das Projekt schneller Fahrt aufnehmen, da Milei anders als seine peronistischen Vorgänger keine Berührungsängte hat, private investoren mit an Bord zu holen.
Neben Öl- und Gasvorkommen verfügt Argentinien über die drittgrößten gesicherten Lithiumvorräte weltweit; bei der Förderung steht das Land an vierter Stelle. Bislang wird in drei Förderstätten Lithium abgebaut, fünf sollen 2024/2025 dazukommen, 15 weitere befinden sich in unterschiedlichen Stufen der Machbarkeitsprüfung.
Industrie ist wenig wettbewerbsfähig
Im Gegensatz zum Primärsektor gilt die argentinische Industrie als wenig wettbewerbsfähig. Aufgrund der Devisenproblematik konnten viele Unternehmen nicht in dem Umfang moderne Maschinen und Anlagen aus dem Ausland erwerben, wie es notwendig gewesen wären, um auf dem Stand der Technik zu bleiben. Viele haben sich auch daran gewöhnt, in einem geschützten Markt mit wenig Wettbewerb zu agieren. Nicht grundlos belegt Argentinien beim Index of Economic Freedom der Heritage Foundation 2023 lediglich Rang 144 von 176 Ländern – zwischen Uganda und Belarus.
Nachholpotenzial in vielen Bereichen
Beim Global Innovation Index 2023 liegt Argentinien auf Rang 73 von 132 Ländern. Auch hier ist noch viel Luft nach oben, obwohl Argentinien beispielsweise über eine sehr lebendige Start-up-Szene verfügt. Aus diesem Grund eröffnete German Accelarator seine bislang einzige Niederlassung in Lateinamerika 2023 in Buenos Aires.
Doch generell besteht großer Nachholbedarf zur Anhebung der Produktivität etwa mit Blick auf Automatisierung/Digitalisierung/Industrie 4.0. Auch beim Umgang mit Wasser und Energie ist das Einsparpotenzial hoch. Hier können sich, werden Subventionen aufgehoben, neue Chancen für deutsche Umwelttechnik entwickeln.
Das große Sammelbecken der argentinischen Wirtschaft stellt der weitgefächerte Dienstleistungssektor dar. Er umfasst den aufgeblähten Staatsapparat genauso wie die kreative IT-Branche. Kann der neue Präsident Milei seine Ziele umsetzen, dann wird es speziell im Staatsbereich große Streichungen geben.
Sektoren | Anteil an der Bruttowertschöpfung 2022 | Anteil an den Beschäftigten 2022 |
---|---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 8,4 | 4,3 |
Bergbau (inklusive Öl- und Gasförderung), Energie- und Wassererversorgung | 6,2 | 3,8 |
Verarbeitendes Gewerbe | 20,2 | 19,3 |
Baugewerbe | 3,6 | 6,5 |
Handel und Transport | 25,0 | 22,7 |
Andere Dienstleistungen | 36,6 | 43,8 |
Hoffnungsträger Lithium für Argentiniens Nordprovinzen
Traditionell ist Argentinien von großen regionalen Unterschieden geprägt. Abgesehen von der Hauptstadtregion Buenos Aires zählte bisher vor allem der an Rohstoffen reiche Süden zu den wirtschaftlich bevorzugten Landesteilen. Allerdings werden insbesondere die lithiumreichen Nordprovinzen Jujuy, Salta und Catamarca in den kommenden Jahren aufholen. Allein in den Abbau und die Verarbeitung von Lithium sollen in den nächsten Jahren dort laut BNAmericas schätzungsweise 7 Milliarden US$ investiert werden, begleitet von notwendigen Ausgaben in den Ausbau der Infrastruktur, die auch anderen Branchen zugute kommen werden.