Wirtschaftsumfeld | Ukraine | Wirtschaftsstruktur
Krieg verändert Struktur der ukrainischen Wirtschaft
Wirtschaftszweige, die für die Verteidigung des Landes und für die Exporte wichtig sind, gewinnen an Bedeutung. Gleiches gilt für Regionen fernab der Front.
15.01.2025
Von Waldemar Lichter | Warschau
Die Ukraine ist eines der flächen- und bevölkerungsmäßig größten Länder Europas. Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wuchs die dortige Wirtschaft zwischen 2001 und 2021 mit durchschnittlich 2,2 Prozent pro Jahr doppelt so schnell wie die Eurozone.
Allerdings hat der russische Angriffskrieg die Wirtschaftsleistung 2022 um mehr als ein Viertel einbrechen lassen. Laut IWF wird das nominale Bruttoinlandsprodukt frühestens 2026 wieder das Vorkriegsniveau überschreiten. Ob die seit 2021 um 7 Millionen Einwohner geschrumpfte Bevölkerung jemals wieder aufgeholt werden kann, erscheint fraglich. Die Kaufkraft liegt nach Studien des Marktforschungsinstituts GfK 85 Prozent unter dem EU-Durchschnitt.
Ende 2024 wurde etwa ein Fünftel des Territoriums von Russland kontrolliert. Vor dem Krieg trugen die umkämpften Regionen 15 bis 20 Prozent zum ukrainischen BIP bei. Diese Gebiete sind auch wegen ihrer reichen Rohstoffvorkommen von großer strategischer Bedeutung.
Bedeutende Vorkommen an kritischen Rohstoffen wie Lithium und Titan befinden sich aber auch im Zentrum des Landes. Zudem kann die Ukraine mit ihrer guten geografischen Lage an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien und der Nähe zur EU als Standort punkten.
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Deutsche Unternehmen sehen Chancen und Risiken am Standort Ukraine
Die Ukraine ist für deutsche Unternehmen ein interessanter Markt der Zukunft und potenzieller Investitionsstandort. Ungeachtet des Krieges engagieren sich einige von ihnen bereits jetzt im Land - nicht nur als Lieferanten, sondern auch mit Investitionen. Hilfreich dabei sind die Absicherungsinstrumente der Bundesregierung, der EU und anderer Partner.
"Die Ukraine ist eines der großen Länder Europas, hat qualifizierte Arbeitskräfte, vor allem die technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung war immer gut. Dazu kommen fruchtbare Böden und eine logistisch günstige Lage für Europa", fasst Reiner Perau, Geschäftsführer der Deutsch-Ukrainischen Handelskammer (AHK Ukraine), die Vorzüge des Landes zusammen.
Auch Nicolai Kiskalt, Partner beim Consultingunternehmen KPMG und Leiter der Country Practice Mittel- und Osteuropa, sieht großes Potenzial. Als "große Industrienation" biete die Ukraine Chancen vor allem in der Produktion, in den Bereichen wie Pharma, Energie, IT und Outsourcing.
Geschätzte Standortvorteile
Geschätzt werden die qualifizierten Arbeitskräfte und die strategische Lage in der Nähe zur EU, die das Land zu einem attraktiven Nearshoring-Standort macht. Die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft verspricht außerdem langfristige Rechtssicherheit bei Geschäften und Investitionen.
Gleichzeitig gibt es aber auch Risiken. Dazu gehören Korruption, bürokratische Hürden und die sich dynamisch – auch wegen der Anpassung an das acquis communautaire – ändernden Vorschriften. Dennoch werden der Ukraine ernsthafte Anstrengungen bescheinigt, diese Probleme anzugehen.
Am stärksten belastet wird der Standort durch kriegsbedingte Risiken, wie etwa bei der Energieversorgung. Eine große Herausforderung ist die verknappte Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften. Die zunehmende Ausweitung der Mobilisierung erschwert zudem Personal- und Produktionsplanung bei Unternehmen.
Dennoch wird der Standort Ukraine und die Entwicklung auf dem Markt von deutschen Unternehmen mit Aufmerksamkeit verfolgt.
"Förderprogramme der EU und Deutschlands eröffnen Geschäftschancen in Branchen wie Energie, öffentlicher Infrastruktur und Agrarwirtschaft",
betont Andreas Glunz, Bereichsvorstand International Business bei KPMG Deutschland. Für Bundeskanzler Olaf Scholz steht fest: "Wer heute in der Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland, das Teil unserer Rechtsgemeinschaft und unseres Binnenmarkts sein wird."
Krieg verändert Wirtschaftsstruktur
Der russische Angriffskrieg hat die Struktur der ukrainischen Wirtschaft verändert. Zweige, wie die Verteidigungsindustrie, gewinnen an Bedeutung. Drohnenfertigung und IT-Industrie legen kräftig zu. Der Anteil der traditionell starken Schwerindustrie wird infolge der Zerstörungen im Osten des Landes dagegen tendenziell abnehmen. An Bedeutung gewinnen werden ferner Investitionen im Energiesektor mit dem Schwerpunkt Dezentralisierung. Besonders wichtig wird der Ausbau erneuerbarer Energien sein. Starkes Wachstum ist für die Bau- und Baustoffwirtschaft zu erwarten. Auch im Gesundheitssektor steigen die Investitionen.
Sektoren | Anteil am BIP |
---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 7,4 |
Bergbau (inklusive Öl- und Gasförderung) | 4.0 |
Verarbeitendes Gewerbe | 8,2 |
Energieversorgung (inklusive Wasserversorgung, falls dies in der Statistik zusammen mit Energie aufgeführt ist) | 4,7 |
Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen (falls nicht mit Energieversorgung aufgeführt) | 0,3 |
Baugewerbe | 1,6 |
Dienstleistungen (Handel, Transport, Gastgewerbe, Finanzdienstleistungen) | 21,6 |
Region Kyjiw stärkstes Wirtschaftszentrum
Die Hauptstadt und die Oblast Kyjiw sind die wirtschaftlich stärksten Regionen. In der teilweise besetzten Ostukraine konzentriert sich die Industrie und der Bergbau. Der Donbas (Donezk und Luhansk) ist bekannt für Kohleabbau, Schwerindustrie und Metallurgie. Dnipro und Saporischschja sind Zentren für Maschinenbau, Metallverarbeitung und Raumfahrttechnik.
Die Ostukraine verfügt über bedeutende Rohstoffvorkommen wie Kohle, Eisen- und Manganerze sowie seltene Mineralien wie Lithium. Diese Ressourcen sind essenziell für die Schwerindustrie und strategisch wichtig für die Entwicklung der "grünen Wirtschaft".
Zu einem Zentrum der IT-Branche hat sich die Westukraine entwickelt. Hier sind außerdem zahlreiche ausländische Automobilzulieferer tätig. Die Region ist gleichzeitig landwirtschaftlich geprägt, der Fokus liegt auf Getreideproduktion und Lebensmittelerzeugung. In der Südukraine hat sich der Schwarzmeerhafen Odessa zur wichtigen Handelsdrehscheibe entwickelt.
Ostukraine verliert, Westukraine gewinnt an Gewicht
Der Krieg hat die regionalen Gewichte verschoben. Die Zentralukraine mit der Hauptstadt und der Oblast Kyjiw sowie die Westukraine mit den Zentren Lwiw und Schytomyr haben an Bedeutung gewonnen. Dagegen haben Donezk, Luhansk und Saporischschja im vom Krieg betroffenen Osten des Landes an wirtschaftlicher Bedeutung verloren. Die direkt an sie angrenzende Oblast Dnipropetrowsk, bleibt aber eine der stärksten Wirtschaftsregionen.