Wirtschaftsumfeld | GUS | Konjunktur
Zentralasien und Südkaukasus treten aus Russlands Schatten
Eine Reihe von Ländern an Europas Peripherie besticht mit hohen Wachstumsraten – trotz oder gerade wegen der globalen Krisen. Sie könnten die Partner von morgen werden.
26.10.2023
Von Viktor Ebel | Bonn
Laut internationalen Beobachtern deutet 2023 und 2024 alles darauf hin, dass die Länder in Zentralasien und im Südkaukasus ihren soliden Wachstumskurs fortsetzen. Dabei hatte es Anfang 2022 noch so ausgesehen, als würden die wirtschaftlichen Turbulenzen in Folge des Ukrainekriegs auch diese Region in eine Rezession abdriften lassen.
Doch es kam anders: Die Länder profitieren auf unterschiedliche Weise davon, dass Russland vom Westen boykottiert wird. Die geostrategische Zeitenwende ist eine Chance, um aus Moskaus Schatten herauszutreten und sich verstärkt in das globale Wirtschaftsgeschehen einzuklinken.
Robustes Wachstum durch zahlreiche Sondereffekte
Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für den Raum Zentralasien und Südkaukasus ein Wirtschaftswachstum von 4,6 Prozent in 2023 und 4,2 Prozent im Jahr 2024. Andere internationale Beobachter wie die Weltbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis.
Schon im Jahr 2022 wuchs die Wirtschaft in der Region laut IWF mit 4,8 Prozent überdurchschnittlich stark – der gestiegenen Nachfrage nach Rohstoffen, der Migration und veränderter Handelsströme sei Dank. Da ein Ende der Sanktionen gegen Russland nicht absehbar ist, dürften auch die Sondereffekte mittelfristig nicht nachlassen.
Öl- und Gasexporteure wie Kasachstan und Aserbaidschan werden verstärkt nach Rohstoffen angefragt, nachdem russische Energielieferungen in Europa nicht mehr gewünscht sind. Profiteure der sprudelnden Devisen sind unter anderem das Bau- und Dienstleistungsgewerbe. Die Kaukasusrepubliken Georgien und Armenien sind das Ziel zehntausender Exilrussen geworden, die zum Teil Unternehmen gründen und mit ihren Ausgaben die Nachfrage nach Dienstleistungen und das Finanzwesen ankurbeln.
Die Lücken im russischen Arbeitsmarkt füllen mehr als zuvor Gastarbeiter aus zentralasiatischen Ländern wie Usbekistan und Tadschikistan. Mit den Rekord-Rücküberweisungen von 2022 befeuern sie den Konsum in ihrer Heimat, auch wenn sich 2023 eine Normalisierung bei den Geldtransfers in die Region abzeichnet.
In Zentralasien lässt sich zudem beobachten, wie die verarbeitende Industrie schrittweise ausgebaut wird. Neben Kasachstan wollen regionale und internationale Unternehmen vor allem Usbekistan als Werkbank nutzen und den zunehmend zusammenwachsenden Markt Zentralasiens von dort aus bedienen.
Starke Handelszahlen unterstützen den Aufschwung
Zentralasien und der Südkaukasus sind aufgrund ihrer Lage zwischen Europa und Asien als Handelsdrehscheiben prädestiniert. Ihrem Potenzial werden die Länder zunehmend gerecht. Sowohl Exporte als auch Importe florieren aktuell, nur die Rohstoffausfuhren leiden unter sinkenden Preisen. Aufgrund der geopolitischen Neuordnung dürfte der Außenhandel 2024 weiter wachsen. Was die Länder gemein haben: Sie schließen keinen Handelspartner aus. Was sie unterscheidet: Wohin sich ihre Handelsströme verlagern.
So haben sich die Exporte Kasachstans und Aserbaidschans in die EU 2022 gegenüber den Vorjahren wertmäßig etwa verdoppelt, was auf die gestiegenen Rohstofflieferungen zurückzuführen ist. Bemerkenswert ist, dass auch Usbekistan seine Ausfuhren in das westliche Staatenbündnis in diesem Jahr um 150 Prozent steigern konnte, wie die Zahlen vom IWF belegen. Dabei profitiert das Land von besonderen Zollpräferenzen der EU (APS+), welche 2021 die Ausfuhrzölle für 6.300 Tarifpositionen ausgesetzt hat.
Kirgisistan und Armenien hingegen haben ihre Exporte nach Russland um ein Mehrfaches gesteigert. Einerseits kompensieren Russlands südliche Nachbarn durchaus weggebrochene westliche Lieferungen, so in den Sparten Agrarerzeugnisse, Nahrungsmittel, Metalle, Textilien sowie Haushaltselektronik. Anderseits sind diese beträchtlichen Zahlen auch durch Re-Exporte zuvor importierter westlicher Waren wie Autos und Konsumgüter zu erklären, so die EBRD in ihrer Herbstprognose.
Die Staatschefs der betroffenen Länder bestreiten die Vorwürfe. Auch die Unternehmen sind um Aufklärung und Transparenz bemüht. So war eine hochrangige deutsche Wirtschaftsdelegation unter Leitung von DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier Mitte September 2023 zu Gast in Zentralasien.
In einem Interview sagte Treier bezüglich der möglichen Sanktionsumgehung:
"Diese Debatte hat zu Reibungsverlusten geführt, die den Ausbau der Zusammenarbeit mit der Region zeitweise beeinträchtigten. Inzwischen hat man mit Vorschlägen und Verfahrensregeln nachjustiert, sodass das Problem etwas entschärft wurde." |
Interesse an Zentralasien ist sprunghaft angestiegen
Aufgrund der Marktgröße, des Rohstoffpotenzials und der fortschreitenden Reformen ist vor allem Zentralasien in den Fokus der deutschen Wirtschaft geraten. Die deutschen Exporte in die Region boomen. Das Interesse an dem Markt ist merklich gestiegen, wie die AHK Zentralasien mit Sitz im kasachischen Almaty auf Nachfrage von Germany Trade & Invest bestätigte. Im Jahr 2023 wurden bereits acht Delegationsreisen durchgeführt, in deren Zuge mehr als 100 deutsche Unternehmen die Region besuchten. Die Anzahl an kommerziellen Anfragen hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt.
Das dürfte nicht zuletzt auch an den gut 40 deutschen Unternehmen liegen, die seit Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar 2022 neu in den Markt eingestiegen sind – teils über Tochtergesellschaften, teils über Office-in-Office-Lösungen. Deutsche Unternehmen stellten in diesem Zeitraum ein knappes Dutzend Investitionsprojekte vor, vor allem in Kasachstan und Usbekistan. Mit Hyrasia One startet in der kasachischen Steppe in den nächsten Jahren das viertgrößte Wasserstoffprojekt der Welt. In Usbekistan wird die Wehrhahn GmbH 2024 zwei Produktionsanlagen für Porenbeton eröffnen. Sie folgt damit anderen Baustoffproduzenten wie Knauf (Gipsplatten) und Falk Porsche Technik GmbH (Fiberglas).
Januar bis August 2023 | Veränderung zur Vorjahresperiode in % | |
---|---|---|
Kasachstan | 2.185 | 51,6 |
Usbekistan | 669 | -9,5 *) |
Kirgisistan | 482 | 320,8 |
Tadschikistan | 64 | 112,4 |
Turkmenistan | 137 | 23,0 |
Aserbaidschan | 379 | 41,9 |
Armenien | 351 | 51,8 |
Georgien | 523 | 63,9 |
Risiken und Herausforderungen bleiben bestehen
Trotz positiver Aussichten sind die Länder weiterhin anfällig für externe Schocks. Dazu zählen:
- Preis- und Produktionsschwankungen bei Öl und Gas sowie anfällige Lieferwege über russische Pipelines und Häfen,
- Schwächung der russischen Wirtschaft infolge einer weiteren Eskalation des Ukrainekriegs, wodurch Rücküberweisungen sinken würden und
- Auswirkungen des Klimawandels (Wasserknappheit, Ernteausfälle durch Hitzewellen).
Hinzu kommen hausgemachte Probleme wie Korruption, Schattenwirtschaft und oligarchische Unternehmensstrukturen, die sich negativ auf das Geschäftsklima auswirken. Im Südkaukasus besteht zudem die latente Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschan und Armenien.