Wirtschaftsumfeld | Brasilien | Investitionsklima
Brasilien wirbt mit grüner Energie um Industriebetriebe
Deindustrialisierung ade: Brasilien will zu einem wichtigen Produktionsstandort werden. Das Stichwort lautet Powershoring. Welche Chancen eröffnen sich für deutsche Unternehmen?
28.11.2023
Von Gloria Rose | São Paulo
In keinem anderen G20-Staat ist erneuerbare Energie heute so günstig wie in Brasilien. Das immense Potenzial macht das größte Land Südamerikas zu einem der aussichtsreichsten Lieferanten für grünen Wasserstoff. Doch beim Transport des Energieträgers in traditionelle Industrieländer geht viel Energie verloren. Effizienter wäre es daher, energieintensive Prozesse vor Ort anzusiedeln: Powershoring.
Was haben deutsche Unternehmen vom Powershoring in Brasilien?
Brasilien ist für die deutsche Industrie ein wichtiger Produktionsstandort in Südamerika. Unternehmen können dort ihre Fertigung nutzen, um ihren CO2-Fußabdruck kostengünstig zu reduzieren. Dies wird noch attraktiver, sobald sich der Emissionsrechtehandel etabliert hat und die Kosten für die Zertifizierung sinken. Brasilien wird voraussichtlich Anfang 2024 den Rechtsrahmen für das Sistema Brasileiro do Comércio de Emissões (SBCE) verabschieden, das sich an dem europäischen System EU-ETS orientiert.
Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas kann sich somit zu einem interessanten Beschaffungsmarkt für CO2-arme Produkte entwickeln. In der Stahlindustrie verlagern bereits erste Unternehmen ihre Produktion nach Brasilien. Die brasilianische Regierung sieht in der Neoindustrialisierung (portugiesisch "Neoindustrialização") eine große Chance für das Land. Wenn sie gelingt, wird der Bedarf an Produktionstechnologien und Dienstleistungen für die Industrie deutlich ansteigen. Damit würde Brasilien für deutsche Zulieferer stark an Bedeutung gewinnen.
Brasilien ebnet den Weg für eine Neoindustrialisierung
Dank der kostengünstigen Versorgung mit grüner Energie aus Wasser-, Wind- und Solarkraft sowie der verfügbaren Biomasse produziert die Industrie in Brasilien schon heute wesentlich sauberer als in anderen Ländern. So liegen die CO2-Emissionen der Chemieindustrie laut einer aktuellen Studie des Branchenverbands Abiquim 10 Prozent niedriger als in Europa und bei einigen Produkten nur halb so hoch wie im weltweiten Durchschnitt.
Dennoch investieren viele multinationale Konzerne derzeit lieber in den USA oder Mexiko. Hauptgrund dafür ist der Inflation Reduction Act (IRA), das milliardenschwere Subventionspaket der US-Regierung. Um die energieintensive Industrie zu halten, bieten auch Deutschland und die EU umfangreiche Fördermaßnahmen zum Ausgleich der gestiegenen Energiekosten.
Brasilien fehlt die Finanzkraft für umfassende Subventionen. Und günstige grüne Energie alleine reicht nicht aus, um Industrieinvestitionen anzulocken. Das gesamte Wirtschaftsumfeld von der Regulierung über die Finanzierung bis zur Ausbildung von Fachkräften und dem Ausbau der Infrastruktur muss darauf ausgelegt sein. Daher gilt es, landesspezifische Kosten zu senken. Zu dem altbekannten 'Custo Brasil' zählen hohe Steuern, eine komplexe Bürokratie, mangelhafte Logistik und die geringe Rechtssicherheit.
Im vergangenen Jahrzehnt hat Brasilien eine der schwersten Rezessionen seiner Geschichte erlebt. Nach Jahren der Deindustrialisierung bietet Powershoring eine einmalige Gelegenheit zu einer 180-Grad-Wende. Unterstützung kommt von der Steuerreform, die die Regierung voraussichtlich bis Anfang 2024 verabschieden wird. Wichtig ist auch der Rechtsrahmen für den Emissionshandel, für grünen Wasserstoff und für Offshore-Wind, über die der Kongress derzeit entscheidet. Die Zeit drängt.
São Paulo fördert die Dekarbonisierung über Bioenergie
Fast ein Drittel der verarbeitenden Industrie Brasiliens konzentriert sich auf den Bundesstaat São Paulo. Auch viele deutsche Unternehmen produzieren hier. Außerdem ist der Bundesstaat der wichtigste Standort für die Zucker-Ethanol-Industrie in Brasilien. Etwa 60 Prozent des landesweiten Zuckerrohranbaus konzentriert sich dort. Daher fördert die lokale Regierung die Dekarbonisierung der Industrie über Bioenergie. So soll der Petrochemiestandort Cubatão künftig vollständig mit grüner Energie versorgt werden. Die Investitionsförderagentur InvestSP richtet Arbeitsgruppen ein, um geeignete Fördermaßnahmen zu besprechen. Ziel ist es, neue Investoren zu gewinnen, insbesondere deutsche und europäische Unternehmen.
Der norwegische Düngemittelkonzern Yara produziert in Cubatão. Das Unternehmen ist der größte Erdgasverbraucher im Bundesstaat. Dabei bezieht Yara bereits heute Biomethan von Raízen, Brasiliens größtem Bioethanolkonzern, und senkt seinen CO2-Fußabdruck, indem es den Biomethananteil nach und nach erhöht. Das ist möglich, weil das Potenzial des Bundesstaats zur Produktion von Biomethan so groß ist – etwa zehn Mal so hoch wie der aktuelle Gasverbrauch Yaras. Raízen verwertet Reststoffe aus der Bioethanolproduktion zu Biomethan und beliefert neben Yara auch die energieintensive Keramikindustrie in Santa Gertrudes.
Reshoring, Nearshoring, Friendshoring: Durch die Coronapandemie, den Ukrainekrieg, geopolitische Spannungen und die Energiewende stellt sich die Industrie weltweit neu auf. Lieferketten und Handelsströme verlagern sich – und begünstigen Investitionen an neuen Standorten. Die lateinamerikanische Entwicklungsbank CAF führte Ende 2022 einen weiteren Begriff ein: Powershoring, die Ausrichtung der Lieferketten auf Standorte mit einer verlässlichen und kostengünstigen Verfügbarkeit an erneuerbarer Energie. Hier kann Südamerika besonders punkten. Drei Motive sprechen für Powershoring:
|
Bei Wind- und Solarenergie punktet der Nordosten
Im Nordosten Brasiliens bieten sich exzellente natürliche Voraussetzungen für Wind- und Solarenergie. Nur wenige Orte auf der Welt erreichen einen ähnlich hohen Effizienzgrad. Außerdem ergänzen sie sich im Tagesverlauf, da der Wind nachts deutlich stärker weht. Heute trägt der Nordosten nur etwa 10 Prozent zur Produktion der verarbeitenden Industrie in Brasilien bei. Die Aussicht auf einen Strukturwandel animiert die Region.
Ein besonderes Interesse am Powershoring vertritt der Bundesstaat Bahia, wo sich im Petrochemiekomplex Camaçari bereits ein relativ breitgefächertes Spektrum an Industrieaktivitäten angesiedelt hat. Die Projekte zur Produktion von grünem Wasserstoff zur Energieversorgung Europas konzentrieren sich auf die Industriehäfen mit Freihandelszonen Parnaíba (Piauí), Pecém (Ceará), Suape (Pernambuco) und Porto do Açu (Rio de Janeiro). Diese legen ihren Fokus bei der Investorenanwerbung auf den Aufbau von Wind- und Solarenergieanlagen sowie von Anlagen zur Wasserstoffelektrolyse. Aber auch Heizkraftwerke, Raffinerien und energieintensive Industriezweige wie Stahl, Zement und Chemie sind in die Hafenkomplexe integriert.
Brasiliens Präsident Lula da Silva kündigte bei seinem Amtsantritt Anfang 2023 an, den Klimaschutz zu einem zentralen Ziel seiner Regierung zu machen. Mittlerweile erarbeiten drei Ministerien entsprechende Programme. Die vierte Initiative stammt aus dem Nationalkongress.
|
Bezeichnung | Anmerkungen |
---|---|
Außenhandelsinformationen für die deutsche Exportwirtschaft | |
Anlaufstelle für deutsche Unternehmen | |
InvestSP | Wirtschaftsfördergesellschaft des Bundesstaates São Paulo |
InvesteBahia | Wirtschaftsfördergesellschaft des Bundesstaates Bahia |
Adece | Wirtschaftsfördergesellschaft des Bundesstaates Ceará |
Adepe | Wirtschaftsfördergesellschaft des Bundesstaates Pernambuco |
Investe Piauí | Wirtschaftsfördergesellschaft des Bundesstaates Piauí |
Invest.Rio | Wirtschaftsfördergesellschaft des Bundesstaates Rio de Janeiro |